Eine Stimme mehr. Für die meisten Wähler*innen im Ruhrgebiet scheint es am 13. September, dem Tag der Kommunalwahlen in NRW, nur ein weiterer Zettel unter vielen zu sein. Ankreuzen, zusammenfalten, ab in die Wahlurne. Dabei ist das diesmal ein durchaus historischer Augenblick. Zum ersten Mal in 100 Jahren wählen die Bürger*innen die »Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr« direkt. Bisher wurden die Mandate von Stadträten und Kreistagen bestimmt; auch Landrät*innen und Oberbürgermeister*innen saßen im Ruhrparlament.
Nun hat also die Bevölkerung aus elf Städten und vier Landkreisen das Wort – aus Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr, Oberhausen, sowie den Kreisen Ennepe-Ruhr, Recklinghausen, Unna und Wesel. 350 Kandidat*innen bewerben sich um die 91 Sitze. Das Ruhrparlament gehört zum RVR und ist für die Regionalplanung zuständig. Hier wird das Ruhrgebiet der Zukunft erdacht – wie soll sich die Region in den kommenden Jahrzehnten entwickeln, wo und wie sollen Wohnbebauung, Gewerbegebiete, Grünzüge, Mobilität und Infrastruktur entstehen? Die Strategien sollen dann, im besten Fall, Eingang in den Regionalplan finden, der später Grundlage für die Kommunen und deren Flächennutzungspläne ist.
2020 ist nicht nur das Jahr der ersten Direktwahl des Ruhrparlaments, sondern auch ein Jubiläumsjahr. Vor 100 Jahren, am 5. Mai 1920, wurde der RVR als »Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk« (SVR) gegründet. Als Zusammenschluss der Gemeinden und Kreise der Ruhr-Region, um die Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag zu erfüllen. 150.000 Bergarbeiterfamilien sowie weitere tausende Arbeiter*innen sollten zusätzlich angesiedelt werden, um den Ruhrbergbau weiter auszubauen. Angesichts der Herausforderungen, diese Menschen mit Wohnungen, Arbeit, Mobilität und Energie zu versorgen, musste groß und kühn gedacht werden. Auch über die Stadtgrenzen hinaus. Hier wurde schon früh in Größenordnungen einer »Metropole Ruhr« geplant; erste Projekte wie der Ausbau des Ruhrschnellweges und der Zugverbindungen wurden auf den Weg gebracht.
Die Geschichte von sieben Metropolen
Eigentlich wollte der RVR im Frühjahr sein Jubiläum groß feiern, mit Festakt, Ansprache des Bundespräsidenten, Veranstaltungen und zwei großen Ausstellungen. Die Pandemie fegte aber auch hier den Terminplan durcheinander, es hagelte Absagen und Verschiebungen. Auch bei den beiden Ausstellungen, die nun ab Mitte September in Essen und Oberhausen zu sehen sind. »100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole« zeichnet im Ruhr Museum die Geschichte des RVR und der Region nach, parallel dazu zeigt die Ausstellung »Die Zukunft im Blick« im Peter-Behrens-Bau des LVR-Industriemuseums Oberhausen Ruhrgebietsfotografien aus dem Bildarchiv des Regionalverbandes Ruhr.
»Unsere Ausstellung zeigt nicht nur eine Metropole, wie erzählen die Geschichte von sieben Metropolen«, sagt Heinrich Theodor Grütter, der Direktor des Ruhr Museums. Die »Stadt der Städte« werde als Verwaltungs- , Politik-, Verkehrs- , Industrie – , Sport-, Kultur- und Wissensmetropole vorgestellt. Drei Jahre lang hat Grütter mit einem interdisziplinären Team aus zehn Kurator*innen die Ausstellung vorbereitet. Über 1000 Exponate und Fotografien von über 200 Leihgebern kamen so zusammen. Die Geschichten des Wandels, der Transformation, der Erfolge und auch des Scheiterns erzählt die Schau hauptsächlich anhand von Objekten und Exponaten. Ein Konzept, das auch in der Dauerausstellung hervorragend funktioniert. Die Ausstellungsarchitektur und die Vitrinen sind in signalhaftem Gelb-Schwarz gehalten, was aber nichts mit Borussia Dortmund zu tun hat. Die Farbgebung leitet sich von jenen Verkehrsschildern ab, die der SVR 1926 einheitlich für das gesamte Ruhrgebiet einführte, ein frühes Corporate Design. »Als der Verband gegründet wurde, wusste keiner, wo Bochum aufhört und Wattenscheid anfing«, sagt Grütter. »Es gab nicht 53 Gemeinden im Ruhrgebiet, sondern 325!« Die Eingemeindungen begannen erst in den späteren 20er Jahren. Das gelb-schwarze Schild brachte Ordnung und Orientierung ins Chaos und funktionierte so gut, dass es innerhalb von zwei Jahren für ganz Deutschland übernommen wurde.
Eines dieser Schilder ist in Essen zu sehen, genauso wie der Originalvertrag der Montanunion, der Fußballwanderpokal »Viktoria« der Deutschen Meister vor 1945, ein »Bambi« von Hape Kerkeling. Das Kostüm von Ulrich Wildgruber aus Peymanns »Hermannsschlacht« aus dem Schauspielhaus Bochum der 80er Jahre ist ebenso ein Exponat wie die Originalmasken aus Kurt Joos‘ Tanztheater-Inszenierung »Der grüne Tisch«, die Ende der 20er an der Folkwang-Bühne entstand und 1932 in Paris Premiere feierte. Aber: »Wir können nicht vollständig sein«, betont Grütters. »Wir haben versucht, die Knotenpunkte der Geschichte zu erwischen und diese mit den Exponaten zu erzählen.«
In der Ausstellung »Die Zukunft im Blick« im Oberhausener Peter-Behrens-Bau setzt man derweil auf Fotografien. Es sind ja auch genügend da – 35.000 Bildträger, darunter originale Glasnegative und verglaste Dias, die ab den 20er Jahren entstanden sind, liegen im RVR-Bildarchiv, das seit 1999 als Depositum im LVR-Industriemuseum aufbewahrt, verwaltet und erschlossen wird. Holger Klein-Wiele, der wissenschaftliche Referent »Digitales Kulturerbe«, hat für die Schau einen Bruchteil von 150 Fotos ausgewählt, die als Bildparcours durch die letzten 100 Jahre Planungs- und Verbandsgeschichte des RVR führen. Auch hier zeigt sich die Region im ständigem Wandel und dauernder Umgestaltung. Vom Industriemoloch hin zur Freizeitoase. Teils brutal und konsequent, wie beim »Großen Graben«, der für die A40 durch Essen geschlagen wurde. Die Straßenszene aus dem Duisburg der 70er Jahre, wo die Bewohner*innen einer alten Häuserreihe die qualmende August-Thyssen-Hütte direkt im Hinterhof haben. »Interessant ist«, sagt Holger Klein-Wiele, »dass die Industrieanlagen zum Teil noch stehen, aber die Häuser weg sind. Eigentlich müsste das umgekehrt sein, aber damals war es so, dass die Altbauten aus dem 19. Jahrhundert irgendwann marode waren und abgerissen wurden, weil niemand mehr in der Nähe der Industrie wohnen wollte«. Auch hier war es der damalige SVR, der neue, moderne Wohnanlagen plante.
Die Fotos des RVR-Bildarchives stammen sowohl von Profifotografen wie Karl Hugo Schmölz oder Manfred Vollmer, als auch von Laien. Dafür wurden damals interne Foto-Wettbewerbe ausgeschrieben, an denen sich alle Mitarbeiter*innen beteiligen konnten und deren Fotos teils in Broschüren erschienen. Im Archiv-Bestand wurden auch echte Schätze entdeckt, wie die historischen Wirtschaftspläne, die von handkolorierten Mittelformat-Dias stammen, oder der komplette Satz Dias der Stadtgestaltungspläne für die Stadt Essen von Philipp Rappaport von 1929. Der Verbandsdirektor des SVR bis 1933 plante die Architektur, den Verkehr in der Innenstadt und die Anlage von Gartenstädten. Einiges davon, wie die GRUGA, wurden seinerzeit auch umgesetzt.
In der Ausstellung sind Reprints dieser historischen Dias zu sehen, später sollen diese in einem Online-Archiv dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Geplant ist, Anfang des kommenden Jahres mit einem Anfangsbestand von 1500 bis 2000 Fotos online an den Start zu gehen. Ziel für die Zukunft ist die Digitalisierung des gesamten Archivs. Aber das braucht seine Zeit. An Material, an neuen Fotos, wird es nicht mangeln. Bis dahin wird sich noch einiges an Struktur wandeln.
»100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole«
Ruhr Museum, Essen
13. September 2020 bis 9. Mai 2021
»Die Zukunft im Blick. Ruhrgebietsfotografien aus dem Archiv des RVR«
LVR-Industriemuseum Peter-Behrens-Bau, Oberhausen
20. September 2020 bis 30. Mai 2021