»Dieses Buch will gelesen, verteilt und wieder gelesen werden«, schreiben die Herausgeber von »Worauf wir uns beziehen können« – und man kann diesem wunderbar vielstimmigen Paperback, das so viele wichtige Themen und Akteur*innen sichtbar macht, nur wünschen, dass genau das wirklich geschieht: dass es in Umlauf gerät und Gesprächsthema wird.
Das könnte allerdings schwierig werden, denn das Buch hat zwei Probleme, die erst einmal überwunden werden müssen: Das eine ist, dass es eine Art Anthologie ist, die zum Abschluss der ersten Programmphase von Interkultur Ruhr erscheint. Interkultur Ruhr ist ein Projekt des Regionalverbands Ruhr. Und da können Themen und Texte noch so relevant und cool aufbereitet sein – es klingt erstmal nach Beamtentum und Jahresbericht. Das andere ist der heterogene und auf den ersten Blick kompliziert wirkende Aufbau, der Essays, Gespräche, Kommentare, Erinnerungen, Zukunftsentwürfe und Fotoserien in drei »Routen« mit eigenen Oberthemen versammelt. Aber, hey: Sich da ganz unbefangen und intuitiv rein zu blättern und zu lesen lohnt unbedingt!
Interkultur Ruhr arbeitet seit 2016 als Nachfolger des Themenfelds »Stadt der Kulturen« der Ruhr.2010 mit Migrant*innen-Selbstorganisationen, freien Initiativen, Akteur*innen, Kulturinstitutionen und Politiker*innen an einer diversen Kulturlandschaft im Ruhrgebiet. Die Kurator*innen Johanna-Yassira Kluhs und Fabian Saavedra-Lara haben selbst Veranstaltungen organisiert, andere bei ihrer Arbeit und ihren Programmen unterstützt, Forschungsaufträge verteilt und Diskussionen angestoßen.
So, könnte man sagen, ist »Worauf wir uns beziehen können« eine Art »Eure Heimat ist unser Albtraum« des Ruhrgebiets geworden: Spannende, oft über die Region hinaus namhafte Autor*innen unterschiedlichster Herkunft, kultureller Hintergründe und Identitäten betrachten eine Gesellschaft, die selbstverständlich und seit Jahrhunderten Einwanderungsgesellschaft ist, aus neuen Perspektiven: Ina Holev und Miriam Yosef entwerfen ein »Plädoyer für einen jüdischen Futurismus«, die Dortmunder Schauspiel-Intendantin Julia Wissert schreibt einen »Ruf aus dem Theater der Zukunft« und Tunay Önder unter dem Titel »Kanakisierung der Kultur« über engagierte Kulturarbeit in der postkolonialen Migrationsgesellschaft.
Normal ist in diesem starken Band, dass Vertreter der (post-)migrantischen Gesellschaft mit starker, selbstbewusster Stimme sprechen. Um mal ein Beispiel aus diesem Füllhorn an verbreitungswürdigen Stimmen herauszugreifen, sei Ella Steinmann zitiert, die am Theater Oberhausen für mehr Vielfalt sorgt. Im Gespräch mit dem Titel »We don’t need another Leitfaden« sagt sie: »Wollen Sie nette Projekte oder die Institution als Ganze nachhaltig verändern? Ich habe direkt im Vorstellungsgespräch gesagt: ‚Ich verstehe die Aufgabe der Agentin für Diversitätsentwicklung als ständige kritische Instanz.‘ Also als ständige Meckerliese. Ich bin nicht da, um euch zu sagen, was ihr alles so toll macht. Ich will eher versuchen, auf Leerstellen oder Veränderungspotentiale hinzuweisen.« Das versucht auch dieses Buch – und das ist gut so.
Worauf wir uns beziehen können: Interkultur Ruhr 2016-21, Strzelecki Books, 320 Seiten, 25 Euro