Es ist das Szenario, vor dem sich die gegenwärtige Gesellschaft wahrscheinlich am meisten gruselt, mal abgesehen von Kriegen oder einem Meteoriteneinschlag. Der Moment, an dem die Bildschirme ausgehen – Fernseher, Telefone, Computer. Wenn die Verbindung jäh abbricht, die Geräte schweigen und auch ein Neustart des Routers nicht weiterhilft. Don DeLillo hat diesen Moment in das Jahr 2022 gelegt, auf den Tag, an dem der Super Bowl Sunday stattfinden soll und ganz Amerika vor dem Fernseher oder anderen Endgeräten sitzen wird.
In New York wollen die Akademiker*innen Max und Diane mit ihrem ehemaligen Studenten Martin, der sich bestens mit Einsteins Relativitätstheorie auskennt, gemeinsam das Spiel anschauen und warten auf ein weiteres Besucherpaar. Jim und Tessa kommen gerade von einer Europareise zurück, sind im Anflug auf New York und vertreiben sich die Langeweile mit dem Kommentieren der Geschwindigkeits- und Temperaturinformationen im Flieger. Dann werden die Bildschirme schwarz, das Licht beginnt zu flackern und das Flugzeug gerät in Turbulenzen. Zur gleichen Zeit bricht die Fernsehübertragung in Max‘ und Dianes Wohnung ab, die Mobiltelefone verlöschen, der Strom fällt aus und die Aufzüge funktionieren nicht mehr.
Don DeLillo verdichtet diesen umfassenden Blackout auf schmale 112 Buchseiten und einen Zeitraum von nur wenigen Stunden. In seinem Roman gibt es keinen lärmenden, weltverschlingenden Katastrophismus; dieser Ausnahmezustand schleicht sich leise heran, um innerhalb eines Moments alles zu verändern. Kein großer Knall, sondern düstere Stille. Wenig Panik unter den Protagonist*innen, stattdessen Verwirrung, Verwunderung, Fassungslosigkeit. Ein technischer Defekt? Ein Hackerangriff oder gar Krieg? Auch der Grund dafür, warum das alles passiert, bleibt im Dunkeln.
»Die Stille« hat DeLillo zwar bereits vor der Pandemie beendet, dennoch findet sich ein Gedankengang von Tessa, eine frische Erinnerung an »das Virus, die Seuche, die Märsche durch die Flughäfen, die Masken, die entleerten Straßen der Städte« im Text. Ob diese Erinnerung nachträglich als Anspielung hinzugefügt wurde oder sich schlicht auf eine fiktive Pandemie bezieht, bleibt im Unklaren. Wir, die Lesenden, wissen seit März 2020 aus eigener Erfahrung, wie schnell sich alles ändern kann und welche Bedeutung die digitalen Technologien für das soziale Leben in einer Ausnahmesituation bekommen haben.
Deswegen ist seine Dystopie in diesen Zeiten so großartig wie verstörend, weil DeLillo knapp und präzise beschreibt, was passieren könnte, wenn auch noch die Kommunikationsnetze gekappt würden. Der Mensch, bisher vom sozialmedialen Flausch umgeben und abgelenkt, wird zurückgeworfen auf sich selbst. Eben noch mit der ganzen Welt vernetzt, nun schon nicht mehr wissend, was drei Blocks weiter passiert. Allein, im Dunkeln sitzend, wie zu Anbeginn der Zeit.
Don DeLillo: »Die Stille«, Kiepenheuer & Witsch, 112 Seiten, 20 Euro