Wer spricht? Wer handelt? Der Autor, der eine Autorin ist, Madame Nielsen, die bei Geburt – biologisch genommen – männlichen Geschlechts war, begleitet und betrachtet einen »er« von höherer Warte. Der namenlose »er« wird mit dem ersten Wort des Romans in eine Behauptung gestellt: »Sagen wir Herbst 1993.« Als könnte es ebenso sonst ein Datum, könnte nie geschehen oder anders verlaufen sein. Literatur ist dichterische Einbildungskraft, ganz gleich, wie dick oder dünn die Camouflage aufgetragen wird. Erinnerung, sprich! Erinnerung, träum! Erinnerung, fantasier!
Glücksuche in New York
Der junge »er«, der vorgibt, aus Russland zu sein, trifft ein in New York City, nachdem er bei einem Europa-Gastspiel der Wooster Group deren Leiterin Elizabeth LeCompte angesprochen, sich beworben und nahezu selbst eingeladen hat. Nun steht er in der »Garage« in Soho, ohne Wohnplatz, mit wenig Geld und geringer Aussicht auf künstlerische Mitarbeit. In der Hierarchie der Avantgarde-Truppe hat er den niedrigsten Rang hinter den members und associats und ist Letzter der volunteers. Willem Dafoe heißt der Star und Lebenspartner von LeCompte, die einen gemeinsamen Sohn haben, der mit zehn Jahren Heidegger liest (freilich auf Englisch). Dafoe hält Hollywood sein Gesicht hin, um in New York Kunst zu machen. Wäre dies der »Schlüssel zur Zukunft« für den Ankömmling?
Die Stadt, that never sleeps, erscheint ihm wie eine Performance, eine Musical-Kulisse, ein Filmset, gebaut aus vertrauten Mustern und Chiffren, typengerecht besetzt und mit jedem Klischee als wahre Lüge erkennbar. Aber sie wird auch zum Schauplatz seiner Schein-Hinrichtung, homosexueller Ekstasen und körperlicher Exzesse, die ihn auf die dunkle Seite des Begehrens und der Hingabe holen. Er, der Fremde, der »das neue Imperium zum Einsturz bringen« will, unterwirft sich dessen kultureller Vorherrschaft mit faszinierter Abscheu und in der Ambivalenz von Anziehung und Abwehr, Selbstwerdung und Selbstverlust.
Keine Zeit zum Atemholen
»Das Monster« erzählt sehr eigen, selbstbewusst und extrem provokant von einer Initiation. 35 Zeilen umfasst der erste Satz, viele, die folgen, sind kaum kürzer. Eine in sich verschlungene, aber knotenlose Bewusstseinsschleife, ohne Kapitel-Zäsuren und von wenigen Absätzen durchbrochen. Keine Zeit zum Atemholen.
Im Gepäck hat er eine Adressliste, die »hosts« anbietet: Schlafgelegenheiten für ein paar Nächte. Er wird vorstellig bei den Zwillingen Bruce und Jerry, grotesken Kreaturen wie aus Filmen von Nicolas Roeg und David Lynch oder wie aus der Factory von Andy Warhol, von dem zwei Bilder – echte oder Reproduktionen? – an den Wänden der komplett mit Velours eingesargten Wohnkammern hängen. Nacht für Nacht kehrt er zu den Brüdern zurück und dem gemeinsamen Körper-Ritual: der »Liturgie« einer Perversion, die strengem Formelwerk gehorcht und keine Abweichung erlaubt. Er erlebt so Schrecken und Gnade der Entpersönlichung, Selbstbefreiung und reinen Leere, findet im Ich-Verlust zur Ich-Werdung. Und vernichtet damit vielleicht den American Way of Life, der den Anspruch auf Individualität konstitutionell festschreibt, aber die Vermassung kultiviert.
Madame Nielsens ästhetisch wie intellektuell exquisit delirierender Stil – scharfkantig wie ein Juwel, leicht wie ein Wattebausch – kehrt das Innerste nach Außen, als hätten Oscar Wilde und Brett Easton Ellis gemeinsam ein kostbares Stück Stoff eingefärbt. Durch Lavendelessenz gezogen und dann kurz in Schmutzwasser getaucht.
Madame Nielsen, »Das Monster«, aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 230 Seiten, 20 Euro;
Lesung am 25. März 2020 im Literaturhaus Bonn, www.literaturhaus-bonn.de