Der Winter des Jahres 1942 in Novi Sad ist kalt und hart. Ein Mann, der aus wärmeren Ländern stammt, steht unbewegt unter der Festung Petrovaradin, trägt dabei einen alten Pelzmantel aus graudunklem Wolfsfell und blickt »auf die schmale, noch eisfreie Fahrrinne in der Mitte des Flusses, hörte mit geneigtem Kopf die fernen Signalpfiffe der Lokomotiven, die aus der Stadt und über den Strom zu ihm drangen und ihn an lang gezogene Schreie erinnerten, und er wusste, dass dieser Winter Jahre dauern würde, vielleicht.«
Zu dieser Zeit ist die Stadt des Königreich Ungarn besetzt, das zu den Achsenmächten, Hitlers Alliierten, gehört. Es ist der Winter des Massakers von Novi Sad, zwischen dem 21. und 23. Januar lässt der ungarische Befehlshaber 1246 Zivilisten erschießen. 809 Juden, 375 Serben, 8 Deutsche und 18 Ungarn. Mehrere hundert weitere werden in der eisigen Donau ertränkt.
Es ist fürwahr kein einfaches Setting, das Clemens Meyer für seine neue Erzählung »Nacht im Bioskop« gewählt hat. Er hat sich wieder etwas Zeit gelassen, sein letzter Roman »Im Stein« erschien 2013, seine Erzählungen »Die stillen Trabanten« 2017. Sein namenloser Protagonist stolpert durch die vom Krieg gezeichnete Stadt und findet Zuflucht in der Parallelwelt eines Bioskops, in den Bildern aus einem anderen Leben. Auf der Leinwand des Lichtspielhauses laufen Abenteuerfilme aus fernen, heißen Wüsten, Hans Albers, »Der Baron von Münchhausen«. Ein ungewöhnlicher Text, aber stilistisch ein typischer Clemens Meyer: knapp, luftig, poetisch, wundersam unaufgeregt.
Clemens Meyer: »Nacht im Bioskop«, Erzählung, Faber & Faber, Leipzig, 2020, Mit historischen Fotografien, 112 Seiten, 18 Euro