Die barocke Wunderkammer war ein sinnstiftender Ort spielerischen Austauschs. Mit Naturalien, Kuriosa und kostbaren Objekten schuf sie den Zusammenhang von prangendem Leben und Verfallen-Sein an den Tod. Das antike carpe diem und memento mori, römische Tugend und christliche Demut des Mittelalters, die das Diesseits für leer, eitel, nichtig befand, allegorischer Zauber und geronnene Pathosformeln, all dies und mehr spiegelt sich in den Kabinetten. Im Schauspielhaus Bochum werden sie durchaus nicht profanisiert, sondern erhalten mit Musik und sakralem Gesang – Bach, Purcell, Mozart – liturgische Weihe.
Auf einem Monumentensockel steht geschrieben ‚HOMO’. Die neutrale Bezeichnung spezifiziert sich: homo monstrosus, homo melancolicus, homo olympos. Diese Untergattungen könnte man zusammenfassen zu dem von Peter Sloterdijk für unsere Gegenwart entdeckten »homo artista«, den auszeichnet, dass er sich in Form halten muss. Auf der Bühne (Johanna Trudzinski) mit schwarz-weiß marmoriertem Boden, auf der ein ausgestopfter Hirsch staunt und Berninis Statue von Apollo und Daphne ins Auge springt, rollen die Zeiten. Der Kulturwissenschaftler Aby Warburg sprach von »barocker Muskelrhetorik«. Die Regisseurin Lies Pauwels beherrscht diese Disziplin der Rhetorik: der Rede und Körper. In »Baroque« sind es, neben denen der fünf Ensemblemitglieder, vier besondere weibliche.
Vor der Kulisse barocker Welterfahrung – eine Vorhang-Draperie lüftet die Abbildung eines üppigen Stilllebens – und bei elegischer, selten ironisch auf Distanz gehender Grundstimmung zeigen Pauwels und ihre Interpret*innen in mehr kursorischen als stringenten Szenen die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den Blick der Anderen auf ihn.
»Fett« reimt sich auf Schmerz, Leid und Wut
Ann Göbel spricht teilnahmsvoll, aber letztlich höhnisch von oben herab auf eine übergewichtige Person, die vor ihr liegt wie zur Sühne in der Kirche. »Fett« reimt sich auf Schmerz, Leid und Wut. Sehnsucht nach Berührung und Wunscherfüllungs-Fantasie funktioniert nach anderen Maßeinheiten als denen von Kilo und Zentner. Der perfekte Look und seine Verzerrung, Repräsentanz und ihre Widerstände, darum geht es. Kalauernd gesagt: Die Welt ist aus den Fugen. Das schwer an sich tragende Ich und das Gewicht der Welt sind an diesem Abend in Bochum ein Fleisch. Wenn Mercy Dorcas Otieno einen Knochenmann pittoresk auf dem Kopf balanciert, wenn Reifrock, Rüsche, Robe und Narrenkappe auftreten, wenn sich Darsteller*innen Tücher um die Köpfe winden, so dass deren Aufdruck von Gesichtern aus Gemälden des 16., 17. Jahrhundert zu den ihrigen werden, wenn sich gleich gültig der Bogen von Caravaggio zu Nina Simone und den Simpsons spannt, wenn der Karneval der Kulturen bunt blinkt, dann sind diese zwei Stunden auf leere Weise gefüllt und etwas eitel.
Aber! Wenn es grüne Papageien-Attrappen regnet, ein Haufen Blüten aus einer nature morte auf die Bühne kippt und zusammengekehrt wird, wenn Jiang Xiang das emotional übersteuerte Mozart-Lacrimosa überschreit und später ihre elastischen Glieder in die Folter einer akrobatischen Nummer spannt, wenn Otieno ihre »Wer bin ich«-Philosophie divenhaft vorträgt, als wäre sie Jessye Norman, schauen wir gebannt und berührt zu.
Wenn alles alles bedeutet, bedeutet alles nichts. Das Tabula-Rasa-Machen mit dem kulturellen, sozialen, ökonomischen, kommerziellen, politischen, physiologischen Plunder unserer verkorksten Zivilisation ist »too much«. William Cooper und Ann Göbel verkürzen es auf die private Verteidigungslinie, die sich ein Protest-Idyll schafft. Zum Schluss wird John Lennons »Imagine« gesungen. Die neun Darsteller*innen kriechen wie verstümmelt an den Bühnenrand: Müssen wir da nicht in der Rampe, die sonst den Kunstraum abtrennt, die ‚wirkliche’ Front erkennen? Was geht’s die Welt an, was wir in ihr anrichten! Sie dreht vor uns ab. Der barocke stupor mundi des 21. Jahrhunderts ist, dass die Welt überhaupt noch existiert – trotz uns.
Wieder am 5. und 6. Juni, schauspielhausbochum.de