Vogelflug, dunkle Weissagung. Ein Wirbel von Vögeln, klein und schwarz wie Chiffren eines Trakl-Gedichts, schwärmen in Kaskaden und ballen sich zusammen im Auf und Nieder vor hellrotem Horizont. Kein gutes Omen. Fernöstlich klingendes Schlagwerk (Mieko Suzuki) wird vielfach verstärkt, während sich der spiegelnde Bühnenboden (Nadja Sofie Eller) im Schauspielhaus Bochum langsam absenkt und Figuren – statuarisch, zeremoniell – auf dem Spielfeld ansichtig sein lässt. Ihre Bewegungen lenken andere Mächte. »Das Land vergeht«, sagt Iokaste. Verseucht, verdorrt, sterbend ist Theben. Ein Fluch liegt auf der Stadt, weil ein Mörder-Mensch unerkannt in ihr lebt.
Vielleicht ist dies hier die eigentliche und einzige »Passion«, nach der verhunzten von Robert Borgmann zehn Tage zuvor am gleichen Ort, gestaltet nach dem »Meister und Margarita«-Roman von Michail Bulgakow und der Musik Johann Sebastian Bachs. Johan Simons inszeniert mit der formalen Strenge eines Oratoriums (unter Auslassen des Chors) den »Ödipus« nach Sophokles. Ohne Pomp, vielmehr innig und intim, so dass sich jeder geringe Ton- und Positionswechsel mit Bedeutung auflädt und die Pathosformeln des Leidens am Ende, wie zum Epilog, mit umso größerer Wucht niedergehen auf uns – und auf ihn: den Gestürzten, den von eigener Hand Geblendeten, an dem kein Sterblicher sich zu vergreifen wagt. Weil er sein eigenes Kains-Mal trägt: Vatermörder, Mutter-Gatte und Geschwister-Erzeuger zu sein. So grauenhaft, dass es fast komisch sein könnte, wie Erkenntnisgewinn und Schmerzvermeidung einander ausschließen. Kleist fand den Ödipus in seinem klumpfüßigen Adam. Die maßlos große Ich-Kränkung, dass wir nicht Herr sind im eigenen Haus, hat der antike Sophokles dem Wiener Juden Sigmund Freud um zweieinhalb Jahrtausende vorweggenommen.
Wir hören in dieser zweistündigen Konzentrationsübung keinen hohen, auf Kothurnen gehenden Ton. Präzise, ja, das wohl, geschäftsmäßig, beiläufig, gewissermaßen gekleidet im Straßenanzug. Nur der blinde Seher Theiresias ist ein Sonderfall: Halb und halb wie aus dem Alten Testament herüberkommend und einem Rembrandt-Gemälde entstiegen, bewegt sich Pierre Bokma in dunkel-prächtiger Robe mit Reifrock, als zöge ein schwarzer Schwan seine Bahn.
»Länger als Glück ist Zeit«
Nach dem Seherspruch liegen Iokaste und Ödipus zuckend am Boden, als unterlägen sie einem anderen Geburtsvorgang. Elsie de Brauw spürt unter der toughen Sicherheit der Mutter-Königin schon den Riss, auch wenn sie Ödipus noch zu ermuntern sucht, wie wenn sie ein Söhnchen zum tapferen Schneiderlein erziehen wollte. Ihrer inneren Zerrissenheit trotzend, bleiben ihr Mutterstolz und ihr Frauenstolz. Zwischendurch laufen Videoprojektionen (Florian Schaumberger) von nackten Körpern und Gliedmaßen, manchmal scheint ein einzelnes Auge in dem Bilderschnelldurchlauf wie herausoperiert.
Das lang’ Verleugnete, nun taghell Aufscheinende der furchtbaren Wahrheit, die die Götter wie zum Hohn der Freiheit des Menschen verhängen, trägt Steven Scharf, als sei sein Gehen von Ketten beschwert, hinüber zu seiner Gattin und Mutter, die ihn als Neugeborenes ausgesetzt hatte. Sein äußerliches Gefasst-Sein sagt mehr von seinem Aufruhr, als Schrei und Klage es würden.
In einem Surround-Effekt umatmet uns im Saal das Luftholen eines nackten Männerkörpers. Der blinde Ödipus, der keine Berührung mehr erträgt und kaum noch sprachmächtig ist, stürzt von der Bühnenrampe herab und steht mitten unter uns, nimmt sich noch einmal zusammen, um klar zu artikulieren, was es ist mit ihm. Derweil spricht Elsie de Brauw ungerührt Heiner Müller: »Länger als Glück ist Zeit«. Ödipus fordert die ihm Nächste auf zur Selbsttötung: »Du solltest Dich aufhängen«, worauf Iokaste das verweigernde Rätselwort spricht: »Wer?«, als wohnte in ihr ein Alien namens Medea. Vor den Müttern sollen die Söhne sterben. Dunkel!
Vorstellungen: 1. und 24. November, Schauspielhaus; www.schauspielhausbochum.de