Hell und Dunkel: John von Düffel erzählt die Geschichte einer Familie

»Wir kehren immer wieder zum Wasser zurück.« John von Düffel hat seinem Roman diesen Satz vorangestellt, der die Richtung vorgibt – »Vom Wasser« kommt keiner in der Familie mehr los, nicht mal der Ich-Erzähler selbst. Er kehrt zurück an den Ort seiner Kindheit, zu der alten Papierfabrik, die zwischen der Orpe und Diemel in der Grenzregion zwischen Ostwestfalen und Hessen liegt. Zwei Gewässer von höchst unterschiedlichem Charakter. Die schwarze Orpe, die »seltsam lichtlos und dunkel zwischen bemoosten Steinen dahinfloss« und auch genauso roch. Ganz anders die lebhaft sprudelnde Diemel, deren Geruch »war silbriges Wasser und Pappellaub«, ein domestizierter Fluss mit aufgestauten Teichen und hellem Grund.
Von Düffel erzählt die Geschichte einer Familie zwischen zwei Flüssen, angefangen bei seinem Ururgroßvater, der einst das Landgut namens »Mißgunst« zwischen den beiden Strömen kaufte und eine Papierfabrik errichtete, die von der Kraft der Orpe angetrieben wurde. Aus schwarzem Wasser entstand weißes Papier. Das Schicksal der Vorfahren war stets eng verbunden mit dem Wasser, das den ganzen Roman durchströmt und ihn zusammenhält. Es sind die Farben, Gerüche und Geräusche des Wasser, die ihn faszinieren und die er in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Als eine konstante Größe, die immer da ist, auch in den Erinnerungen: »Noch in der Nacht roch unsere sonnengetrocknete Haut nach Wasser und Steinalgen, noch Stunden später, wenn wir uns die Lippen leckten beim Abendbrot, schmeckten wir den pappelstumpfen, süßlich-salzigen Wassergeschmack auf der Haut.« VKB
John von Düffel: »Vom Wasser«, dtv, 288 Seiten, 9,90 Euro
Der Fliegende Engländer: Daniel Defoes »Robinson Crusoe« hält eine einsame Insel gefangen

Kein Seemannsgarn. Die Geschichte beruht auf »Tatsachen«. Aber so hat viel später auch Philip Roth seine Autobiografie genannt, um ironisch auf Distanz zu gehen und das Fiktionale des eigenen Lebensberichts zu betonen. Das Schicksal des Seemannes aus York, den es als Schiffbrüchigen auf eine einsame Insel vor der Küste Südamerikas spült, die er 28 Jahre lang – nicht die ganze Zeit allein – bewohnt, berichtet Daniel Defoe, indem er behauptet, dessen Aufzeichnungen bloß weiterzugeben. Wer in dem Buch in der Ich-Form erzählt, sei Crusoe selbst. So geschehen im 17. Jahrhundert.
Eine Erzählung mit einer Moral: dass die Heimat des Bleibens wert sei und die Fremde Unglück bedeute. Aber die Sehnsucht ist groß und das Fernweh größer und Robinsons abenteuerliches Herz schlägt nach dem Unbekannten, auch noch nach der Rettung aus seiner Eremiten-Existenz. In einem zweiten, nicht weniger umfangreichen Band treibt es ihn wieder in die Welt hinaus. Hinter der mahnenden Botschaft des Insulaners in seiner Isolation liegt auch Verführungskraft.
Robinson Crusoe ist mehr als eine literarische Gestalt, sein Geschick ein Topos, er selbst ein mythischer Held wie Odysseus, der Fliegende Holländer oder der ewige Jude Ahasver. Gottvertrauen und Glück, letzteres wird möglich durch das erste, gehören hier zusammen. Es ist auch ein frommes Buch und praktische Anleitung, fast ein Ratgeber: wie Robinson sich und reichlich Vorrat und Hilfsmittel retten kann, sich eine schützende Heimstatt baut, pflanzt und sät und erntet, Hirte ist und Lehrmeister des guten »Wilden« Freitag.
Allein, er kann nicht fort. Versuche, sich aufs Meer zu wagen, schlagen fehl. Die Insel hält ihn gefangen – und immer den Fluchtweg vor Augen. Wohl kann er sein Dasein fristen, ohne Not, aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es im Fünften Buch Mose heißt. Die Bibel, übrigens, begleitet Robinson Crusoe: systemrelevant, würden wir heute sagen. AWI
Daniel Defoe: »Robinson Crusoe«, in einer Vielzahl von Ausgaben, die schönste, kommentierte vollständige Neuübersetzung von Rudolf Mast ist 2019 im Mare-Verlag erschienen (400 Seiten, 42 Euro)
Der bekannteste unbekannte Fluss Deutschlands: Sebastian Brück hat der Düssel einen eigenen Blog gewidmet.
Unscheinbar. Das beschreibt die Düssel wohl am besten. Selbst in der nach ihm benannten Landeshauptstadt verläuft der rund 40 Kilometer lange Nebenfluss des Rheins oft unterirdisch. Das schreckt den Düssel-Flaneur Sebastian Brück nicht, er spaziert seit 2014 in Etappen von der Mündung bis zur Quelle an der Düssel entlang und dokumentiert die Spaziergänge in seinem Blog in Wort und Bild. Richtig näher gekommen ist er seinem Ziel noch nicht – aber darum geht es gar nicht. Es zählen die kleinen Beobachtungen am Rande und die Gespräche mit dem besten Freund P. Im Dialog vermitteln sie viel Wissenswertes über Flüsse im Allgemeinen und die Düssel im Speziellen, nehmen aber auch Bezug auf aktuelle Ereignisse und ihre Lebenssituation. Eine Entschleunigung mit viel Ironie und Humor für die im besten Sinne gilt: Der Weg ist das Ziel. VL
duessel-flaneur.de/entlang-der-duessel
Im Fluss der Kindheit: Norbert Scheuers »Überm Rauschen« führt in die Eifel

Ein Mann fährt zurück nach vorgestern. Von Köln geht es mit dem Zug in die Eifel, hinein in Wälder und enge Täler. Am Fluss, den sie »der Rauschen« nennen, liegt die Gaststätte seines Vaters, der mit ihm und seinem älteren Bruder Hermann einst zum Fliegenfischen ging. Der Vater ist längst verstorben; Hermann, der die Gaststätte in den Niedergang führte, wurde zunehmend psychisch auffällig und schließlich in eine Klinik eingeliefert. Der jüngere Bruder, zu Hilfe gerufen, steht nun angelnd im Fluss und hängt seinen Erinnerungen nach. An die Kindheit am Wasser, die erste Liebe, merkwürdige Gäste und gemeinsame Momente kurz vor dem Einschlafen: »Wir öffneten abends das Fenster und der Rauschen flutete in unser Zimmer, der Fluss schmeckte nach Pflaumen, reifen Äpfeln, roch nach schleimigen Kuhnasen, nach einem Sack ertränkter junger Katzen, nach Nebel und Abenteuern, für die es keine Sprache gab, Dinge, die uns stumm machten wie Fische und glücklich, am Fluss zu leben.«
Das, was in Norbert Scheuers Roman leicht wehmütig im Hintergrund rauscht, sind nicht nur die Strömungen des Flusses, sondern auch die analogen Ton-Kassetten, die Hermann bis zuletzt an seinen jüngeren Bruder schickte, auf denen er von Forellen, Äschen, Barben und Elritzen erzählte, von Kiesbänken, Sommerregen und versunkenen Bäumen. Letzte Lebenszeichen einer gemeinsamen Vergangenheit. Auf Happy Ends kann man nicht bauen, aber auf die Beständigkeit des Rauschens. VKB
Norbert Scheuer: »Überm Rauschen«, C.H.Beck, 167 Seiten, 17,90 Euro
Auf ins Niemandsland: »Die Fahrt zum Leuchtturm« von Virginia Woolf

»Ja, gewiß, wenn es morgen schön ist, sagte Mrs. Ramsay«. Aber was ist schon gewiss! In Virginia Woolfs Roman von 1927 missglückt die Absicht, »Die Fahrt zum Leuchtturm« anzutreten. Der Ausflug der Ramsays und ihrer Sommergäste zu der der schottischen Küste vorgelagerten Hebriden-Insel wird erst zehn Jahre später nachgeholt. Das in drei Teile gegliederte Buch (»Der Ausblick«, »Die Zeit vergeht«, »Der Leuchtturm«) spielt also mit: Erwartung, Aufschub und dem Erreichen des Ziels, das naturgemäß ein anderes ist, als es ein Jahrzehnt zuvor ursprünglich gewesen wäre. Insofern ist »To the Lighthouse« auch eine Erzählung, die der Zeit ihr Vergehen ablauscht und den Zeitverlauf und Zeitverlust selbst manövriert. Wobei der Anblick der See und ihres rhythmischen Wellengangs in uns das Zeitverlorene wie auch allwaltende Harmonie aufruft.
Der Leser folgt Mrs. Ramsay, Mutter und Ehefrau (in dem Paar porträtiert Virginia Woolf auch die eigenen Eltern), in »das befremdliche Niemandsland, in das es jeden Mensch hineintreibt«, wohin ihm niemand je wird folgen und in dem dieser Mensch selbst womöglich auch die eigene Spur nicht immer wird aufnehmen können. Er wird unterwegs dorthin »nach irgendeinem kleinen Dies oder Das« greifen, um der Einsamkeit zu begegnen oder sie mit einem Täuschungsversuch zu überwinden versuchen. Trotzdem heißt es über Mrs. Ramsay, sie sei »unumwegig« unterwegs, »dieses Ding, das sie das Leben nannte«, intuitiv zu fassen; anders als ihr Mann, der als Philosophieprofessor der Logik und seiner unnachgiebigen Eigensucht gehorcht.
Es bleibt unzulänglich, einen Menschen im Atomwirbel all seiner Gefühlswahrheit erfassen zu wollen, aber Woolfs virtuose Meisterschaft überwindet erzählerisch nicht wenig diesen einschränkenden Vorbehalt und lenkt ihn – und uns – durch seinen Bewusstseinsstrom. AWI
Virginia Woolf: »Die Fahrt zum Leuchtturm« / »Zum Leuchtturm«, Neuübersetzung: Karin Kersten, S. Fischer Verlag, 240 Seiten, 11 Euro