kultur.west: Frau Bobe, was ist Prokrastination? Krankheit, psychische Störung oder lediglich eine Modeerscheinung?
JULIA BOBE: Im Grunde ist sie erst einmal eine bestimmte Form des Aufschiebens. Die Beschreibung des Phänomens, dass man freiwillig Dinge und Projekte, die man sich eigentlich vorgenommen hat zu tun, aufschiebt. Ohne dass äußere Umstände dazu beigetragen haben. Das hat negative Konsequenzen, man hat dementsprechend nicht das Ziel erreicht, was man gern erreichen würde. Oder zögert alles bis zur Deadline heraus. Das kann durchaus so drastisch werden, dass es in einer psychischen Störung mündet. Es kommt aber auch darauf an, wen sie fragen. Die einen sagen, ja, es ist eine psychische Störung und als »Arbeitsstörung« definiert. Die anderen, es sei nur ein Symptom, einhergehend mit Angststörungen oder Depressionen – wenn man ängstlich oder depressiv ist, würde man demnach häufiger prokrastinieren. Eine Modeerscheinung ist die Prokrastination nicht, da schon alte Schriften von diesem Phänomen berichten. Eine Modeerscheinung ist sie dann, wenn im Zuge der zunehmenden Selbstoptimierung viele Ratgeber zum Thema erscheinen und viele Menschen sich dann die Frage stellen, ob sie selbst betroffen sind.
kultur.west: Wie sehen die Symptome aus?
BOBE: Auch das ist erst mal eine subjektive Einschätzung des eigenen Verhaltens. Sobald aber ein Leidensdruck entsteht und ich merke, dass ich immer unter meinen Möglichkeiten bleibe, dass ich bereits negative Konsequenzen in der Arbeitswelt erfahren habe, oder ich im Freundeskreis darauf angesprochen werde und es mich selber stört. Wenn ich das darauf zurückführe, dass ich Sachen nicht zu Ende erledige oder zu spät damit beginne, dann lohnt es, sich die Frage zu stellen, wo das Problem liegt und wie man dagegen angehen kann. Dafür gibt es zum Beispiel spezielle Fragebögen, die helfen sollen, das selber einschätzen zu können. Es gibt aber durchaus Menschen, die damit überhaupt kein Problem haben und wenig selbstkritisch sind. Die kommen eben mal zu spät oder geben ihre Steuererklärung erst auf den letzten Drücker ab, aber empfinden das selbst nicht als kritisch.
kultur.west: Stimmt es, dass oft Student*innen und Kreative betroffen sind?
BOBE: Da muss man unterscheiden, was Prokrastination wahrscheinlich macht. Das sind erst mal Faktoren, die innerhalb der Person liegen. Dass man etwa impulsiv ist oder durch eine geringe Stressresistenz dafür anfällig, Dinge aufzuschieben. Ich denke bei Ihrer Frage eher an die situationsspezifischen Kriterien, also welche Aufgaben dafür prädestiniert sind, dass man sie aufschiebt. Das ist durchaus in manchen Berufsfeldern oder Lebensphasen häufiger der Fall. Deswegen leiden auch so häufig Studierende darunter, weil es eben nicht mehr die klaren Regeln wie in der Schule gibt, sondern viel mehr Selbstverantwortung. Bei Künstler*innen sind viele selbstständig und müssen sich selbst organisieren. Das könnte verstärkt dazu führen, dass diese Menschen mehr prädestiniert für das Aufschieben sind als andere.

kulturwest: Wo setzen Sie für die Betroffenen mit Ihrer Beratungsstelle an?
BOBE:Wir bieten verschiedene Angebote an. Einige sind niedrigschwellig in Form von Vorträgen oder kurzen Workshops. Es gibt aber auch feste Gruppe von Studierenden, die sich wöchentlich treffen und über ihren Alltag sprechen. Wir setzen auf kurzfristige Impulse und langfristige Begleitung durchs Studium. Inhaltlich gibt es verschiedene Ansätze: Etwa den der Prokrastinations-Ambulanz der Uni Münster, deren Programm eher kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtet ist, mit dem wir ebenfalls arbeiten. Da schauen wir, welche Gedanken bei den Betroffenen zu Prokrastination führen, welche Verhaltensweisen sie ändern und wie sie an ihrer Motivation arbeiten können. In unserer Anti-Prokrastinationsgruppe geht es eher darum, die Ressourcen, also die Dinge, die schon da sind und gut laufen, zu aktivieren und im Austausch mit anderen darüber zu sprechen, welche Strategien individuell helfen können. Ziel ist, dass weniger Leidensdruck erzeugt wird und man mehr Sachen schafft, die man sich vorgenommen hat.
kultur.west: Was wünschen Sie sich für den Umgang mit der Prokrastination?
BOBE:Wir als Team sehen es sehr kritisch, dass es immer mehr darum geht, sich selbst zu optimieren, effizienter zu werden, alles zu erledigen, was man sich vornimmt zu tun. Es wäre schöner, wenn der Diskurs mehr in die Richtung gehen würde, was wirklich wichtig ist. Dass man die organisatorischen Nichtigkeiten, in die man sich verstrickt, einfach mal zur Seite schiebt mit der Erkenntnis, dass man sich das zwar vorgenommen hat, aber nun guten Gewissens nicht weiterverfolgt. Und damit seinen Frieden macht.
Julia Bobe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Psychologie an der Universität Paderborn und Teil des Teams der Beratungsstelle »ProLernen«