Warum ein neuer Dom? Eigentlich war der alte doch noch gut in Schuss. Nicht einmal 150 Jahre alt und weder baufällig noch durch einen Brand beschädigt. Trotzdem machte sich Paderborn um 1215 daran, die dicken Mauern abzutragen und in den nächsten Jahrzehnten Stück für Stück zu ersetzen. Repräsentativ sollte das neue Gotteshaus sein, imposant und modern natürlich. Die Franzosen hatten es vorgemacht, und unverzüglich gerieten alle in Zugzwang. Spitze Bögen, riesige Fenster, Kathedralen, die nie gekannte Höhen stürmten – überall machten diese topaktuellen Architekturideen die Runde.
Auch Paderborn wollte mithalten, allerdings zunächst halbherzig. Offen zwar für die spektakulären Neuigkeiten, fühlten sich die Bauherren aber gleichzeitig dem Spätromanischen verpflichtet. Ihr neuer Dom wirkt denn auch wie ein konstruktiver Kompromiss: eine gotische Hallenkirche, die auf westfälische Traditionen baut. Sie ist nicht aus einem Guss, trägt dafür aber ein ganz eigenes Gesicht. So steht sie bis heute am Domplatz und bietet jetzt Anlass für eine der kulturhistorischen Großausstellungen, wie man sie seit Jahren aus dem Diözesanmuseum kennt. Caritas, Canossa und die Karolinger standen schon auf dem Programm, die Christianisierung Europas und die Wunder Roms. Nun also die Gotik. Als Ganzes nehmen die Schau und der 800 Seiten starke Katalog die Stilepoche ins Visier, verlieren dabei aber nie das Paderborner Beispiel aus den Augen, das quasi als größtes Ausstellungsstück gleich vor der Tür des Diözesanmuseums steht.
In der Romanik glich der Dom noch einer Burg
Per 3D-Animation macht die Ausstellung drinnen die Vorgeschichte der heimischen Kathedrale lebendig. Rekonstruiert wird auch der im 13. Jahrhundert abgebaute Vorgängerdom von Bischof Imad. Mit seinen wuchtigen Wänden, den kleinen Fenstern und gedrungenen Proportionen gleicht er einer Burg, stämmig und stabil. Ganz im Sinne seiner Zeit. So oder so ähnlich baute die Romanik in Paderborn und anderswo.
Verblüffend, wie sich mit einem Mal Geist und Geschmack wandelten. Wie plötzlich und unvermittelt die Pioniere der Gotik beim Kirchenbau konträre Präferenzen setzten und sich selbstbewusst emanzipierten vom Vorbild der Antike. Allen voran Abt Suger von Saint-Denis, der an einem Junisonntag des Jahres 1144 nahe Paris den Beginn zur neuen Epoche markierte. Sein an jenem Tag geweihter Kirchenneubau feierte die Leichtigkeit, wo Masse war, verwarf die robuste Wehrhaftigkeit und setzte an zum filigranen Höhentaumel. Licht durchflutete das zuvor düstere Kirchenambiente, Glamour durchkreuzte die schlichte Demut von einst.
Nur dank erstaunlicher technischer Innovationen konnte diese Vision Wirklichkeit werden: ein System aus Spitzbögen, Stützpfeilern und seitlichen Streben, das sich selbst hält und tragende Wände überflüssig macht. Wo vorher dicke Mauern Halt geben mussten, konnten sich bunte Fenster ausbreiten. Die Wirkung auf die Zeitgenossen muss überwältigend gewesen sein. Zwischen 1050 und 1350 wachsen allein in Frankreich 80 Kathedralen empor. Je gigantischer das Bauwerk, desto großartiger das Lob Gottes, rechtfertigten die Bischöfe ihr nicht bescheidenes Streben. Auf statische Berechnungen konnten sie sich bei ihrem Wettstreit gen Himmel nicht stützen. »Trial and error« waren angesagt auf den Kathedral-Baustellen des hohen Mittelalters, die überall in Europa aus dem Boden sprossen – Canterbury, Prag, Wien, Köln…
Fragt man sich verwundert, wie das gotische Erfolgsmodell so rasend schnell die Runde machen und bereits 1215 den Ehrgeiz der Paderborner anstacheln konnte, stößt man bald auf das damals neue Medium der Architekturzeichnung. Die Schau präsentiert mit den sogenannten Reimser Palimpsesten die ältesten Beispiele ihrer Art. Zusammengerollt und eingepackt konnten solche Entwürfe den internationalen Ideentransfer enorm beflügeln.
Jerusalem auf Erden
Mit den bis dahin nie gesehenen Formen und Dimensionen hielt auch ein ganz neuer Geist Einzug in europäische Gotteshäuser, wo Gläubige nicht länger in mystischer Düsternis tappten. Im Dom zu Paderborn ist kein einziges altes Fenster erhalten, doch zeigt die Schau ein kleines, sehr feines Beispiel gotischer Glasmalerei aus Marburg. Jenes farbige Licht, das solche Fenster in den Kirchenraum holten, sollte die Gläubigen in eine Art himmlisches Jerusalem auf Erden versetzen, ein Reich zwischen Diesseits und Jenseits. Die neuerdings mehrstimmige Musik – in der Ausstellung hörbar und dazu noch in alten Partituren präsent – konnte das Hochgefühl befördern.
Das klingt nach Showtime unterm Kreuz, nach einer nie dagewesenen Form religiöser Kontemplation. Zur frömmigkeitsbefördernden Licht- und Klang-Inszenierung passte das plastische Personal in den gotischen Kathedralen. Zur Ausstattung gehören oft lebensgroße Skulpturen, die dem Gläubigen physisch und emotional bewegt entgegentreten. Eine Reihe wunderbarer Beispiele hat Paderborn zu bieten. Etwa den einmaligen »Kopf mit Binde«: Der unbestimmte Gesichtsausdruck des Jünglings zwischen Trauer und Entsetzen gibt bis heute Rätsel auf. Oder auch die Fuststraßen-Madonna im bewegten Mantel. Mit ihren zu einem zarten Lächeln gehobenen Mundwinkeln schaut sie innig auf den verspielten Christusjungen in ihrem Arm.
In der Kathedrale der Gotik gehört alles zusammen – Architektur, Plastik, Glasmalerei, selbst Musik. Ein Gesamtkunstwerk, das im Idealfall schafft, was Abt Suger schön schilderte: »Wenn mich – aus meinem Entzücken über die Schönheit des Hauses Gottes – die Lieblichkeit der vielfarbigen Steine von äußersten Sorgen hinwegholt…, dann scheint es mir, dass ich mich gewissermaßen in einer sonderbaren Region des Universums aufhalte, die weder völlig im Schlamm der Erde, noch völlig in der Reinheit des Himmels existiert«.
DER PADERBORNER DOM UND DIE BAUKULTUR DES 13. JAHRHUNDERTS IN EUROPA, BIS 13. JANUAR 2019