Durch die Straßen, über Plätze schlendern, einfach so. Sich treiben lassen in der Menge ohne Ziel. Beim Gehen sehen: Häuser, Menschen, Gesichter, Geschäfte… In Schaufenster gucken, doch nichts kaufen wollen. Die Stadt beobachten ohne Blick aufs Handy, ohne Musik im Ohr und ohne Eile. Denn die Zeit ist gleichgültig. Eine schöne Vorstellung. Vielleicht gerade heute: raus aus der hektischen Konsumzone, hinein in ein inspirierendes Erlebnis des Urbanen. Der Zeitgeist, so scheint es, arbeitet am Comeback des Flaneurs. Es ist sicher nicht zuletzt dieser Link in die Gegenwart, der die Bonner Ausstellungsidee reizvoll macht.
Mit rund 160 Werken begleitet die großangelegte Schau im Kunstmuseum den Stadtspaziergänger aus dem Paris des 19. Jahrhunderts bis ins Hier und Jetzt der Megametropolen. Man kennt ihn von Edgar Allan Poe, der dem »Mann in der Menge« durchs nächtliche London folgt. Charles Baudelaire beschreibt ihn als »leidenschaftlichen Beobachter«, der »die große Wüste der Menschen unablässig durchwandert«. Dass der Flaneur, ganz Dandy, auf seinen Wegen gern eine das Tempo drosselnde Schildkröte an der Leine führte, kolportiert der Philosoph Walter Benjamin.
Die Ausstellung verpflanzt die eher in der Literatur beheimatete Figur in die bildende Kunst. Der Maler, der Fotograf nimmt den Flaneur ins Visier. Oder aber der Künstler wird selbst zum umherschweifenden Sammler von Eindrücken. Sein Flanieren ist dann zwar nicht mehr ganz so ziel- und sinnlos wie beim Dandy von einst. Dafür kann der Künstler-Flaneur uns zeigen, was ihm ins Auge fiel. Zuerst natürlich in Paris, laut Benjamin das »gelobte Land des Flaneurs«. Zu danken ist es Georges-Eugène Haussmann und seinen Boulevards, die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts kreuz und quer durch die Stadt gezogen wurden und ideale Bedingungen fürs Schlendern bieten.
»Tag und Nacht zieht es mich in die langen Straßen voller Menschen.« (Ernst Ludwig Kirchner)
Mit den Impressionisten startet denn auch die malerische Geschichte des Flaneurs. Vincent van Gogh sieht bunt bekleidete Damen den Montmartre erklimmen, bei Camille Pissarro erfüllt am Faschingsdienstag ein wildes Wimmeln und Flimmern den Boulevard. Ein weiteres Eldorado findet der Flaneur etwas später in Berlin. Diesmal gehört Ernst Ludwig Kirchner zu den Getriebenen. »Tag und Nacht« zieht es ihn ab 1911 in die »langen Straßen voller Menschen«. Von der gewohnten Gemächlichkeit ist in Kirchners Großstadtszenen keine Spur mehr. Spitze Zacken, starke Farben, harte Schraffuren zeugen hier vielmehr von nervöser Erregung beim Stadtrundgang.
Neben den Malern sind es bald auch etliche Fotografen, die umherstreifend das Pflaster der Metropolen erkunden. Schließlich ist die Figur des Flaneurs praktisch genauso alt wie das Medium der Fotografie. Alfred Stieglitz, Brassaï, André Kertész haben bei ihren Erkundungen die Kamera im Anschlag, ebenso Lee Friedlander, ein Pionier der Street Photography. Während der 1960er Jahre streift er durch die USA; man kann ihn sehen, denn Friedlander ist immer wieder selbst präsent in seinen Momentaufnahmen. Mal spiegelt er sich beim Fotografieren in einer großen Fensterscheibe, mal folgt er einer Frau durch New York City und wirft dabei Schatten auf ihren Pelzkragen.
Es ist ein weiter Weg – von Haussmanns breiten Boulevards in Paris bis in die urbane Gegenwart. Die moderne Großstadt hatte den Flaneur einst hervorgebracht, und – dies zeigt die Bonner Ausstellung – damals wie heute erweist sich seine schweifende fließende Wahrnehmung als geeignet, um den sich ständig wandelnden, schwer fassbaren Organismus Stadt zu erfassen.
Noch immer. In Bonn macht etwa Beat Streuli es wandfüllend vor – mit einer riesigen, von Videoarbeiten durchsetzten Fotocollage, die eigens für die Schau entstanden ist. Streulis Blick fällt hier wie beiläufig auf den Einzelnen in der Masse. Es sind anonyme Großstadtmenschen oder kleine Gruppen, die er per Teleobjektiv isoliert und an der Wand wohl wahllos zusammenbringt.
Während Streulis Eindrücke noch klar nachvollziehbar und in den Städten unserer Tage zu verorten sind, hat Corinne Wasmuhts Flaneur die Orientierung offenbar komplett verloren. In ihrem gemalten Großformat meint man zwar Räumlichkeit zu erkennen – Architekturen, auch Menschen, die sich darin bewegen –, doch das Vertraute ist kaum greifbar, alles ist viel zu verschachtelt, zu verschwommen. Als motivisches Ausgangsmaterial benutzt die Künstlerin oft Flughäfen, Bahnhöfe oder Fußgängerzonen. Orte, wo ständig Bewegung herrscht. Auch Wasmuht macht Tempo, indem sie ihre Räume zu verschiedenen Zeiten, aus unterschiedlichen Perspektiven sieht und in einem Bild alles zusammenwürfelt. Spiegelungen und Lichtreflexe kommen beschleunigend dazu. Der Flaneur hat den Boden unter den Füßen verloren.
Trotzdem ist man ihm bis hierher brav gefolgt. Doch gegen Ende wird es ernst. Die Schau schickt ihre Besucher vor die Tür zum Selbstversuch. Hilfestellung leitet Johanna Steindorf, die extra für Bonn einen Audiowalk gestaltet hat. Rund ums Museum kann man das Flanieren ausprobieren. Auf echtes Metropolenfeeling wird man zwischen Bahngleisen und Bürogebäuden allerdings verzichten müssen.
»DER FLANEUR«, BIS 13. JANUAR IM KUNSTMUSEUM BONN, TEL.: 0228 / 776260, WWW.KUNSTMUSEUM-BONN.DE/