Krisen, Kriege, Umbrüche und Utopien einer neuen, rettenden Gemeinschaft. Es sind Themen, die in der Luft liegen. Heute wie vor 100 Jahren. Jetzt nehmen gleich zwei Museen den Zeitgeist in den Blick. Verbinden die Geschichte mit der Gegenwart und suchen zukunftsweisende Visionen in der Kunst. Unabhängig voneinander, auf verschiedenen Wegen. Doch ergänzen sie sich. Das macht die Reise reizvoll: Nach der »Menschheitsdämmerung« im Kunstmuseum Bonn bietet sich der Abstecher nach Essen ins Museum Folkwang an, wo »neue Gemeinschaften« geschmiedet werden.
Wie aus Beton-Bauklötzen aufgetürmt stehen Monika Sosnowskas »Pillars« von 2018 im Raum. Als »Säulen« sollten sie doch eigentlich Stabilität versprechen. Doch die Konstruktion scheint wenig verlässlich, eine der Stützen ist schon eingekracht. Verbogene Armierungseisen halten die Brocken nurmehr notdürftig zusammen. »Sturz und Schrei«, so heißt das erste Kapitel der Bonner Ausstellung. Und es hält noch allerhand mehr Zerstörungs- und Untergangs-Szenarien bereit.
In Hans Thuars Gemälde von 1912 ist es ein »Gefällter Baum«, der am Boden liegt. Augusts Vetter Helmuth Macke malt vier Jahre später eine »Zerstörte Wassermühle«. Hier wie überall treffen aktuelle Arbeiten auf die rund 100 Jahre alten Werke der Klassischen Moderne. Marie von Malachowski-Nauen zeigt im Holzschnitt von 1924 einen Menschen kopfüber in die »Verdammnis« stürzen, und Rebekka Benzenberg näht 2020 einen Haufen alter Pelzmäntel zusammen, um ihnen dann ein nachdenkliches Statement ins Fell zu ätzen: »Too Much Future«.
Wie haben Künstler*innen damals auf gesellschaftliche Umbrüche oder Krisen reagiert, wie gehen sie heute damit um? Das sind Fragen, die sich Stefanie Kreuzer als Kuratorin in Bonn gestellt hat. Dabei hebt sie die Verschränkungen und Parallelen hervor, die mit Blick auf den Beginn des 20. und des 21. Jahrhunderts offenkundig scheinen: Technischer Fortschritt erzeugt Euphorie und Verunsicherung. Damals erlebt man die Folgen der Industrialisierung und Maschinisierung, jetzt die Digitale Revolution. Ängste verbreiten sich jetzt und damals angesichts von Kriegen und wankenden Demokratien. Aktuell kommt noch die Klimakatastrophe hinzu. Weltuntergangsszenarien machen die Runde. Heute wie damals.
»In allen Lüften hallt es wie Geschrei / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei«, so beschreibt Jakob van Hoddis vor gut 100 Jahren das »Weltende«. »Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken…« Mit van Hoodis berühmten Zeilen eröffnet Kurt Pinthus eine Gedichtanthologie, die 1919 erscheint und nun, 100 Jahre später, in der Bonner Ausstellung Ton und Takt vorgibt. Die vier Kapitel der Anthologie finden sich wieder in den vier Räumen der Schau. Und der Titel des Buches wird hier zum treffenden Ausstellungstitel: »Menschheitsdämmerung«.
Sogleich fragt man sich: Was könnte gemeint sein? Es ist wohl die Abenddämmerung am Ende des Tages, der Sonnenuntergang vor der finsteren Nacht. Oder doch eher die beginnende Morgenröte als hoffnungsfroher Neuanfang? Auf jeden Fall beides: Kurt Pinthus sah seine Gedichtauswahl als »Sammlung von Glück, Sehnsucht und Qual«. Und wie das Buch, so zeichnet auch die Ausstellung ein vielstimmiges Panorama. Wo neben »Sturz und Schrei« auch etwa die »Erweckung des Herzens« ihren Platz findet.
Man erlebt sie in den Arbeiten von August Macke, dem Star der Schau. Warme Farben, ruhige Formen und tiefer Friede umgeben etwa die drei »Kinder am Brunnen«, geschützt zwischen Mauern und behütet unter einem Blätterdach. Beinahe wie ein irdisches Paradies wirkt die Szene, gemalt einige Monate nur, bevor Macke an der Front zu Tode kommt. Im 21. Jahrhundert erwecken zum Beispiel Nevin Aladağs Arbeiten der Serie »Social Fabrics« die Herzen. Im Tondo vereint die Künstlerin hier, gleich einer Collage, Teppichelemente aus unterschiedlichen Kulturkreisen: Disparates wird zur friedlich-harmonischen Einheit verwoben.
Stefanie Kreuzers Idee, der Ausstellung ein 100 Jahre altes Buch zu Grunde zu legen, scheint ungewöhnlich, vielleicht auch etwas kompliziert konstruiert. Doch das Ergebnis funktioniert und überzeugt. In den vier thematisch geschiedenen Ausstellungsräumen verteilt sie assoziativ alte und neue Arbeiten und verwickelt sie in interessante Dialoge, die anregen, ohne belehren zu wollen: Während hier noch die »Erweckung des Herzens« beglückte, werden nebenan schon »Aufruf und Empörung« laut. Paul Adolf Seehaus zeigt 1915 ein kleines Menschenpaar, verloren im »Sturm«. Die vom Menschen verformte, durchtechnisierte Welt lässt keinen Platz mehr für runde, organische Naturformen. Alles ist zackig und unwirtlich eckig. Ähnlich wie jene kniende, kriechende Gestalt, die Georg Herold 2009 aus Holzlatten zusammenschraubt – geformt und gebeugt von Regeln und Strukturen.
Der Wald in Flammen
Goshka Macuga denkt die Entwicklung 2020 in ihrem 3D-Wandteppich ein ganzes Stück weiter: Der Wald steht in Flammen. Menschen sind keine mehr zu sehen. Nur Tierwesen, die entweder versuchen zu fliehen oder als Demonstrierende unverdrossen ihre Banner hochhalten. Obwohl ihr Lebensraum schon völlig zerstört scheint: die Letzte Generation von Morgen.
Kurt Pinthus schließ seine Gedichtsammlung mit einem Lichtblick: »Liebe den Menschen« überschreibt er das letzte Kapitel. Den zugehörigen Saal der Bonner Ausstellung beherrschen Menschen- und Körperbilder. Viele handeln von Liebe und wecken mitunter gemischte Gefühle. Wenn August Macke etwa seine komplett nackte Frau als Venus mit dem kleinen Amor im Rücken auf Kissen und Decken sitzend posieren lässt, dann denkt die heutige Betrachterin eher an männlichen Voyeurismus als an Menschenliebe.
Unverfänglicher wird es jedenfalls, wenn es um die innige Beziehung von Mutter und Kind geht wie vor gut 100 Jahren bei Käthe Kollwitz oder Heinrich Nauen. Neben diesen konventionellen Interpretationen hängt, unbequem, Louisa Clements Variation des Themas: Statt der liebenden Mutter hält eine lebensnahe Kunstoff-Puppe mit KI-Hirn den Säugling und wirft Fragen nach der Zukunft zwischenmenschlicher Beziehungen in einer zunehmend digitalen Welt auf.
In Kurt Pinthus‘ Anthologie ist es ein langer Weg mit 23 Autor*innen und rund 270 Gedichten: Von Franz Werfels Versen »Fremde sind wir auf der Erde alle« bis zu Johannes Bechers Zeilen »Keiner Dir fremd / Ein jeder Dir nah«. Aktuell reicht die Reise nach Essen, um dieser Utopie nachzuhängen. Denn unter dem Ausstellungstitel »Wir ist Zukunft« beleuchtet das Folkwang Museum dort »Visionen neuer Gemeinschaften«. Ähnliche wie in Bonn gehen die Recherchen auch dabei 120 Jahre zurück, reichen bis heute mit Aussicht auf die Zukunft und lassen erkennen, dass in Umbruchs- und Krisenzeiten die Sehnsucht nach einer neuen Gemeinschaft umso heftiger aufflammt. So war es schon um 1900, als eine Handvoll Aussteiger sich aufmachten an den Lago Maggiore.
Kurz vor seinem Aufbruch in den Süden hatte einer von ihnen, Gusto Gräser, seiner Zivilisationsmüdigkeit auf der Leinwand Ausdruck gegeben: »Der Liebe Macht« heißt das Gemälde, und es beschreibt eine geteilte Landschaft. Die rechte Hälfte zeigt, in Flammenlicht getaucht, rauchenden Fabrikschlote und sich bekriegende Menschen. Links herrscht hingegen paradiesische Eintracht von Mensch und Tier in unberührter Natur.
Gräser und die Gleichgesinnten besiedelten einen Hügel bei Ascona, tauften ihn Monte Verità und erprobten dort neue Lebensformen: Sie fühlten sich wohl in offenen Beziehungen, aßen nur Obst und Gemüse aus eigenem Anbau und pflegten die Nacktkultur. Sie propagierten die Abkehr vom Kapitalismus mit »seinen sozialen Folgeübeln« und hofften, dass der Monte Verità »ein Hort für spätere Zeiten« werde. Ein schöner Traum, der allerdings schon nach kurzer Zeit platzte.
Es gab in der Folge noch ähnliche Gemeinschaften mehr und auch viele Sympathisanten der »Lebensreformbewegung«, die das Ideal weniger radikal verfolgten. In der Ausstellung kommt etwa Folkwang-Gründer Karl Ernst Osthaus zur Sprache, dem eine Lebensgemeinschaft vor der eigenen Haustür vorschwebte – mit einer »Reformschule« auf dem eigenen Grundstück in Hohenhagen. Bei Bruno Taut fanden solche Pläne offene Ohren, fühlte er sich doch als Architekt dazu berufen, die Gesellschaft aus dem Chaos zu einem neuen Zustand der Harmonie und Gemeinschaft zu führen. Um 1920 hat Taut ganze Wohn- und Lebensräume für zukünftige Gemeinschaften erdacht. Auch das ist Thema in Essen.
Auf dem Weg Richtung Gegenwart macht die Schau dann noch in »New Babylon« halt, wo die Häuser auf Stehlen stehen und jegliche Erwerbsarbeit entfällt. Auch der Hippie-Modernismus wird gestreift, bevor das 21. Jahrhundert anbricht. Neue Technologien versprechen nur mehr vage eine Sicherung des Überlebens der Menschheit, wie es scheint. Und immer öfter werden Lösungen in radikal neuen Formen des Zusammenlebens von Menschen, Tieren, Pflanzen und der anorganischen Welt gesucht.
Im Video malt sich Eglé Budvytyté aus, wie eine solche zukünftige Gemeinschaft aussehen mag: Eine geheimnisvolle Gruppe junger Menschen durchstreift die Wälder, Wüsten, Seen, man badet gemeinsam, schläft im Pulk und wandert auf allen Vieren, den Blick gen Himmel, durch den Sand. Ähnlich ganzheitliche Gedanken bewegten wohl auch Yussef Agbo-Ola, als er eigens für Essen seinen »12 Stone Frog Temple« konzipiert hat. Das Gehäuse hat die Form eines giftigen Frosches, der in seiner südamerikanischen Heimat vom Aussterben bedroht ist. Im Inneren sieht man grüne Schatten, riecht Lavendelduft und hört den Regenwald vibrieren. Hier kann man gemeinsam verweilen – und sich vielleicht darüber klarwerden, wie alles zusammenhängt.
»Menschheitsdämmerung. Kunst in Umbruchzeiten«
Kunstmuseum Bonn
Bis 18. Februar
»Wir ist Zukunft. Visionen neuer Gemeinschaften«
Museum Folkwang, Essen
Bis 17. März