Ein hallenhohes Stahlregal. Gefüllt mit Mappen und Kartons aus robuster Graupappe und hölzernen Karteikästen; in einem Fach sind akribisch beschriftete Rollen gestapelt. Dazu – unter Plexiglas – ein kleines Modell des Chipperfield-Entwurfs vom neuen Museum Folkwang aus dem Jahr 2010. Die Kurator*innen haben für die Ausstellung »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…« ein kleines Stück des Dortmunder Baukunstarchivs ins Museum geholt. Am liebsten möchte man selbst die Archivalien erforschen, Kisten öffnen und Pläne entrollen. Die hängen aber bereits kompakt und klug aufbereitet, mit Hang zum originellen Fundstück, an den Wänden.

Die Ausstellung, die in Kooperation mit dem Baukunstarchiv NRW und der TU Dortmund entstanden ist, zeigt zehn der wichtigsten Kulturbauten, die seit 1950 im Ruhrgebiet entstanden sind, anhand von Skizzen, Fotos, Plänen, Notizen und Modellen. Die Exponate stammen aus dem Nachlass zahlreicher Architekten, die das Dortmunder Archiv verwahrt. Neben Naheliegenden wie dem Musiktheater im Revier (MiR) ist auch Unerwartetes zu entdecken, wie etwa die Essener Stadtteil-Begegnungsstätte Bürgerhaus Oststadt. Ansonsten geht es einmal quer durchs Revier – nach Dortmund ins ehemalige Museum am Ostwall und dem Naturkundemuseum, nach Essen ins Museum Folkwang, ins Aalto-Theater und dem wieder aufgebauten Grillo-Theater. Neben dem MiR zeigt sich Gelsenkirchen mit dem Kunstmuseum, Duisburg mit der abgerissenen Mercatorhalle und Bottrop mit dem Josef Albers Museum Quadrat.

Der Ausstellungstitel »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…« stammt aus einem Text der Zeit, der 1960 zur Eröffnung des Musiktheaters im Revier erschien. Das irritierte Erstaunen kann man nachvollziehen, wenn man sich das damalige Ruhrgebiet vor Augen führt – ein verqualmtes Stahl- und Kohleland, noch immer gezeichnet von den Bombardierungen des Krieges. Als das Musiktheater Mitte der 50er Jahre geplant wurde, zeichnete man den zukünftigen Standort direkt auf ein Luftbild der zerstörten Gelsenkirchener Innenstadt. Was für eine Wirkung der helle und unerhört moderne Bau mit den Schwammreliefs von Yves Klein in dieser Umgebung gehabt haben muss! Architekt Werner Ruhnau plante auch an der Einrichtung mit. Seine runden Drehsessel für das Foyer besaßen zwar gepolsterte Armlehnen, aber keine Rückenlehne. Der Homo Ludens, der spielende Mensch, sollte sich im Sitzen frei bewegen können.

Ruhnaus Vision, vor das MiR einen großen, urbanen Platz mit zwei schlanken Hochhäusern zu bauen, wurde damals nicht umgesetzt, hängt aber nun als Bleistiftzeichnung im Museum. In direkter Nähe zu dem Foto, das die Schauspielerin Joan Crawford zeigt, die aufgeregt und aufgerüscht mit einem Modell des MiR posiert. Es war Teil der Ausstellung »Neues Theater in Deutschland«, die 1961 im New Yorker Hauptquartier von »Pepsi Co.« stattfand. Im selben Jahr drehte Bernhard Wicki übrigens seinen fast vergessenen Spielfilm »Das Wunder des Malachias« mit Günther Pfitzmann, Senta Berger und Loriot in Gelsenkirchen, das Musiktheater musste als Kulisse eines modernen Casinos herhalten.

Die Planer von damals sahen die Architektur nicht nur als eitlen Selbstzweck oder als steingewordenes Zeugnis der eigenen Großartigkeit. Sie dachten meist die Menschen und deren Bedürfnisse konsequent mit. Wie und wohin sollte sich die Bevölkerung des Ruhrgebiets entwickeln?
»Ist diese Stadt Metropole des Reviers, ist sie berufen, etwas für die Zukunft zu leisten? Da ist mehr Überlegung anzustellen, die nicht mit dem Rechenschieber und dem Zollstock abzumessen ist. Besteht die Kultur im Neubau eines Theaters? Nein, Kultur ist das, was aus dem Leben der Einwohner wird.«
Essens Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt 1958
Das wird nicht nur beim MiR deutlich, sondern auch im Entwurf des Naturkundemuseums Dortmund, das Ende der 70er Jahre einen Neubau im Fredenbaumpark bekam. Die Entscheidung, das Museum dort zu bauen, trotz der damals noch dreckigen und industrialisierten Umgebung, war ein wichtiges Zeichen für die Zukunftsperspektiven der Nordstadt. Beim Entwurf von Mechtild Gastreich-Moritz und Ulrich Gastreich wurde die Öffnung und Verbindung der Architektur zur direkten Umgebung von Anfang an mitgedacht, so führt einer der Hauptwege des Parks unter dem Gebäude hindurch. Der Gedanke, durch große Fensterflächen die Kunst von Außen erlebbar zu machen, findet sich auch im Bottroper Josef Albers Museum Quadrat wieder. Die kubistische Pavillonarchitektur von Bernhard Küppers fügt sich dezent und unaufgeregt in den Stadtpark ein.

Wie es sich im Ruhrgebiet gehört, sind auch architektonische Perlen nicht vor dem Abriss sicher. Die Duisburger Mercatorhalle, die die im Krieg zerstörte Tonhalle ersetzte, ist so ein Fall. Das junge Duisburger Architektenteam Gerhard Graubner, Heido Stumpf und Peter Voigtländer entwarf Mitte der 50er Jahre eine Mehrzweckhalle, in der Konzerte, Ausstellungen und Kongresse stattfanden. Der große, sechseckige Hauptsaal mit seiner prismenartigen Decke wurde für seine Akustik gelobt. Obwohl das Haus 2001 unter Denkmalschutz gestellt wurde, hagelte es nur ein Jahr später per Ministerentscheid der Oberen Denkmalbehörde die Abrissgenehmigung. Heute ist die Mercatorhalle nur noch der Name des großen Konzertsaales in der einfallslosen Eventarchitektur des »CityPalais«, umgeben von Gastronomie, Einzelhandel, Büros und einem Spielcasino.
So ist das immer mal wieder im Ruhrgebiet – den großen Visionen wird mit Pragmatismus, wenn nicht mit Leidenschaftslosigkeit begegnet. So auch in Gelsenkirchen: Als die Drehlager von Ruhnaus legendären MiR-Stühlen in den 90ern nach und nach den Geist aufgaben, beauftragte man ein externes Unternehmen mit der Reparatur. Die handelten und schweißten die Stühle an dieser Stelle kurzerhand zusammen.
»Und so etwas steht in Gelsenkirchen – Kulturbauten im Ruhrgebiet nach 1950«: Museum Folkwang, Essen
Bis 10. Januar 2021