»Das Deutschland der Nachkriegszeit war ein Land der Frauen: Trümmerfrauen, Flüchtlingsfrauen, Soldatenwitwen, alleinstehende Mütter (…), die auf ihre vermissten Söhne und Männer warteten. 1945 zählte die Statistik sieben Millionen mehr Frauen als Männer, 1950 noch vier Millionen«, hieß es nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Hintergrundpapier zur Arbeitswelt des DGB Thüringen. Die Lage war im Ruhrgebiet natürlich nicht anders – und ein Bauprojekt in Essen daher nur konsequent: 1954/55 entwarf Wilhelm Seidensticker ein »Haus der berufstätigen Frau«. In einem zehngeschossigen Teil brachte er damals Einraum- und in einem neungeschossigen Bereich Zweiraum-Appartements unter. In Zeiten, in denen sich damals noch viele Menschen zwangsläufig ihren Wohnraum teilten, keine Selbstverständlichkeit.
Obwohl Seidensticker zu den bedeutenden Architekten der Nachkriegszeit im Ruhrgebiet gehört, sind in Essen nur noch wenige seiner Bauten erhalten. Die Milchbar in der Gruga von 1952, ein Meisterwerk der Innenarchitektur, existiert nicht mehr. Auch das Haus der Erwachsenenbildung – ein brillantes Beispiel des Bauens mit Betonfertigteilen von 1972 – wurde abgerissen. Das »Haus der berufstätigen Frau« ist also eines der wenigen, die erhalten geblieben sind – neben seinem Wiederaufbau des Grillotheaters.

Der Bochumer Architekt hatte damals den gesamten Wiederaufbau des Stadtteils Holsterhausen geplant – seinerzeit eines der größten Bauprojekte Europas. Der Komplex auf der Kaupenhöhe sollte dessen städtebauliche Dominante werden und eines der ersten Wohnhochhäuser in Deutschland überhaupt. So entstand ein Bau, der mit seinen farblichen Absetzungen und den vorgelagerten Säulen und Halbpfeilern im Erdgeschoss Le Corbusiers Idee der aufgeständerten Unités d’Habitation nachahmt. Im rechten Winkel zum Hochhaus schließt sich ein zweigeschossiger Trakt an, in dem ursprünglich Geschäfte mit darüberliegenden Wohnungen untergebracht waren, die heute als Einfamilienhäuser und Kindertagesstätte genutzt werden.

2019 wurde der Komplex unter Denkmalschutz gestellt. So war für die Allbau AG klar, dass sie bei einer Sanierung den Originalzustand möglichst wiederherstellen wollte – längst keine Selbstverständlichkeit. Denn zuvor war die Fassade schon einmal alles andere als gelungen saniert worden. Seidenstickers subtile Gliederung des klaren Baukörpers durch kannelierte Betonreliefbänder zwischen den Fenstern hatte man so farbig akzentuiert, als würde dem Haus ein Ringelpullover übergestreift. Die Fenster – ohnehin längst mit dicken Plastikprofilen, statt den ursprünglichen schlanken Metallrahmen versehen – waren teilweise pseudo-dreidimensional ummalt worden. Dahinter mag der Versuch gestanden haben, architektonische Elemente hervorzuheben. Aber gut gemeint ist halt noch lange nicht gut gemacht.
Die jetzt wiederhergestellte originale Farbgestaltung zeigt nun wieder Seidenstickers ganze Meisterschaft. Das Fassadenrelief verändert sich je nach Sonnenstand, die orangefarbenen Decken der Balkone und des angedeuteten Flugdaches korrespondieren mit den Markisen. Sehr sorgsam wurde die Stirnseite mit Klinkern im alten Reichsmaß neu aufgemauert. Die neuen Fenster können zwar aus technischen Gründen nicht an die Feingliedrigkeit der Originale heranreichen, nehmen aber zumindest das ursprüngliche Raster auf. Die klare Struktur der selbstbewussten, architektonischen Großform ist wieder deutlich zu erkennen.
»Der behutsame Umgang mit Gebäuden bestimmter Gestaltungsepochen ist uns eine Herzensangelegenheit. Auf Gebäude, die unter Denkmalschutz gestellt werden, sind wir daher besonders stolz«, bekundet die Allbau AG. Dass ihr Anspruch auch künftig gilt, kann sie erneut unter Beweis stellen – wenn die Innensanierung von Seidenstickers Wohnhochhaus ansteht.