Pop-Pfarrer. Kultur-Pfarrer. Beschäftigt man sich etwas mit dem Leben von Thorsten Nolting, stößt man schnell auf diese Etiketten, oder spitzer formuliert – Schubladen. »Ich weiß nicht. Das passt gar nicht richtig zu mir« sagt Thorsten Nolting. »Bei mir gab es eine Verschiebung in der Rolle. Ich hatte meine kulturell geprägte Zeit als Pfarrer der Johanneskirche. Acht Jahre, die für mich sehr intensiv waren, dort habe ich bestimmte Muster aufgebaut und danach weitergeführt und mit meiner neuen Aufgabe bei der Diakonie fusioniert. Ich habe das Alte nicht ganz gelassen, sondern habe etwas davon mitgenommen und versucht, diese Mischung aus Religion und Kunst auch im Feld des Sozialen anzuwenden.«
Nolting sitzt in seinem Büro auf dem Diakonie-Campus in Düsseldorf-Flingern. Von dort aus blickt man auf den offenen Platz, um den sich ein Pflegeheim, Beratungsstellen, ein Sozial-Kaufhaus, Frisörsalon, das niedrigschwellige Suchthilfe-Café »Drrüsch« sowie der große, helle Raum der Versöhnungskirche mit der Engel-Skulptur des Künstlers Thomas Schütte gruppieren. Nolting ist nicht nur der Diakoniepfarrer, sondern auch der Vorstandsvorsitzende der Diakonie, ist somit für die ganze Stadt und 3000 Mitarbeiter*innen zuständig, von der Kita bis zum Pflegeheim.
Die leere Bergerkirche als Raum für Experimente
Jene Etiketten, mit denen Nolting wenig anfangen kann, haben ihre Wurzeln in den 2000er Jahren. Damals beauftragte er den Künstler Tobias Rehberger, die Bergerkirche in der Düsseldorfer Altstadt neu zu gestalten. Aus dem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert, das versteckt in einem Innenhof liegt, wurde ein offener moderner Raum mit grünen Wänden, einem weiß illuminierten Altarblock, einer asymmetrisch gehängten, roten Kugelleuchte; bewusst konfessionsübergreifend gestaltet: »Das wollte ich unbedingt, wir haben ja auch bei der Diakonie verschiedenste Konfessionen. Was uns interessiert, ist die Haltung. Wie geht man auf andere zu, wo sind aber auch gemeinsame Grenzen?« Die Kirche wurde zum Raum für Experimente, zum »Labor für soziale und ästethische Entwicklung«, was auch durch die Plakate des Kommunikationdesigners Fons Hickmann für Aufmerksamkeit in der Kunst- und Kulturszene sorgte. 2013 gründete Nolting dort das »Büro für soziale Innovation«, das sich mit neuen Ansätzen für Soziale Arbeit und die damit verbundenen Folgen für die Diakonie beschäftigt. In Zusammenarbeit mit sozialen Unternehmern und Social Start-Ups geht es um digital health, digitale Suchtprävention und neuen Methoden der Jugend- und Familienarbeit. Das Gesprächsformat »futuro sociale« bindet die interessierte Öffentlichkeit mit ein.

»Uns interessiert, ob dieses Label ›futuro sociale‹ irgendetwas auslösen kann« sagt Thorsten Nolting. »Die Veranstaltungen sind sehr gemischt, nicht jedes Gespräch und jede Aktion sind folgenreich, aber manches hat schon eine Wirkung. Dahinter gibt es eine Art verborgene Werkstatt, wo wir als Diakonie im Kontakt stehen mit Social Start-Ups, die interessante Ideen haben, aber oft nicht die finanziellen Mittel, diese umzusetzen. Das ist, das was darunter liegt. Was wir immer wieder zeigen, sind bestimmte Themen, von denen wir glauben, dass diese auch die Bevölkerung beschäftigen.« Ihm geht es dabei aber nicht darum, eine weitere Talkshow zu inszenieren. »Ich lege großen Wert darauf, dass das Format nicht konfrontativ ist, weil mich das so langweilt. Statt harter Gegenmeinungen möchte ich etwas für die Zukunft konstruieren und mit Leuten reden, die daran mitdenken.« Das überträgt sich dann im besten Fall auch auf das Publikum, dass sich am Gespräch beteiligt. Zudem hat Nolting einen Architekten beauftragt, ein Büdchen vor der Kirche zu konstruieren, aus dem man einen Tresen hervorziehen kann. »Das ist sehr kommunikativ, da bleiben Leute auch schon mal eine Stunde länger und reden miteinander. Das ist wichtig – die Leute in Kontakt zu bringen!«
Überhaupt liegt ihm viel an der Förderung von Kommunikationskultur zwischen der Kirche, den Mitarbeiter*innen und der Gesellschaft. Auch die Atmosphäre und die Gestaltung der Orte sei dabei wichtig. »Moment.« Nolting steht auf, holt ein Buch aus dem Regal, blättert, findet und zeigt ein Foto eines modernen Gebäudes mit raffinierten Fensterflächen: »Das ist unser neuer Campus mit dem Fortbildungsinstitut in Holthausen. Vorne ist das Institut, daneben ist eine Kita. Das macht Spaß! So wollen wir Kultur und Wertschätzung an die Mitarbeitenden zu vermitteln. In einer Architektur, die sich sehen lassen kann und nicht protzig ist.« Und erzählt begeistert von einem neuen Pflegeheim mit einem besonderen Raum der Stille, der vom Düsseldorfer Künstler Markus Karstieß gestaltet wurde; für das Personal und die Angehörigen. »Für solche Zwecke ist Kunst einfach fantastisch!«
Diesen Dialog soll auch ein neues Magazin gleichen Namens vermitteln, das optisch und inhaltlich meilenweit entfernt ist von den üblichen Kirchenmitteilungsblättchen. Die erste Ausgabe mit dem Thema »Einsamkeit?« hat zwei aufeinandergestapelte, pittoresk angeschrammte Plastikgartenstühle auf dem Cover. »So versuchen wir, relevante gesellschaftliche Themen mit der Kunst zu verbinden« sagt Nolting und blättert durch die Seiten. »Ich habe Ann-Christin Bertrand von C/O Berlin gebeten, diese erste Foto-Strecke und den Titel zu kuratieren. Beim zweiten Heft macht das Thomas Seelig, der Leiter der fotografischen Sammlung im Museum Folkwang.«

Mit dem Begriff »Social Design« kann Nolting hingegen wenig anfangen – »Schwierig, damit meint man meist die Frage, wieviel Bänke auf einem Platz stehen sollen« – mit Social Start-Ups um so mehr. Dennoch müsse man sich eins klarmachen: »Es ist noch wahnsinnig schwer, damit in Deutschland Geld zu verdienen. Wenn jetzt jemand etwas erfindet, um etwa Zimmer an Flüchtende zu vermitteln, wer soll das bezahlen? Dafür haben wir kein Geld, heißt es dann.« In Wien hat so etwas hingegen hervorragend funktioniert, schwärmt Nolting und erzählt vom »Magdas« – einem Hotel, das fast nur von Geflüchteten betrieben wird, was hervorragend zum internationalen Publikum passt. »Es gibt interessante Sachen. Und es lohnt sich, diese zu bestärken.« Deshalb investieren Nolting und die Diakonie ins Digitale, etwa im Bereich des Kontaktes zu den Familien von Kindern, die Schwierigkeiten haben. »Dieser Kontakt zu den Eltern fällt uns oft schwer« sagt Thorsten Nolting. »Weil die Eltern teils ebenfalls unzuverlässig sind. Wir brauchen die Eltern, damit für das Kind etwas besser wird. Das geht am besten mit dem Mobiltelefon. Mit einem kleinen Start-Up gehen wir jetzt in die Software-Entwicklung und planen zum Beispiel Chats und Terminvereinbarungen mit den Eltern über eine App.«
»Ich habe den Glauben immer als etwas empfunden, das mich bestärkt, im anderen etwas Gutes zu sehen«
Man spürt im Gespräch, dass Nolting eher die Chancen als Risiken sieht – sei es im Umgang mit der Technologie oder mit den Menschen. »Ich habe den Glauben immer als etwas empfunden, das mich bestärkt, im anderen etwas Gutes zu sehen« sagt Nolting und lächelt. »Mehr die Begabung, mehr das Positive als das Defizit. Das ist für mich das christliche Menschenbild. Das ist ein bisschen verschüttet durch diese ganze Sünden-Thematik! Da hat die Kirche ziemlichen Mist gebaut, weil sie das so stark gemacht hat über die Jahrhunderte. Für mich ist der Kern ein ganz anderer. Nämlich aus diesem Defizitdenken herauszukommen, auch bei sich selber. Der Glaube an Gott hat immer diesen Teil, dass man einverstanden ist mit sich. So eine Grundbestätigung trotz aller Fehler, um damit durch die Welt zu gehen, die finde ich enorm wichtig.«
Die Menschen wieder für die Kirche und den Glauben begeistern. Mit ungewöhnlichen Formaten, wie damals und heute in der Bergerkirche. Oder jener performativen Konzertreihe »Gospeltainment«, mit der er drei Jahre der Johanneskirche volles Haus beschert hat. Danach kamen viele Besucher auf ihn zu und wollten in die Kirche eintreten. »Ja, das war sehr erfolgreich« lacht Nolting. »Wir haben dann dort die zentrale Wiedereintrittssstelle gegründet, die erste hier im Rheinland. Wir hatten im ersten Jahr etwa 150 Eintritte, da war ich ganz stolz. Aber dieses Potential, was da ist, haben wir noch lange nicht ausgeschöpft, da ist viel mehr möglich. Wir müssen neue Formen bauen. Wir können kaum etwas so lassen.«