Richard Siegals Langzeit-Performance »Lunar Cycle« ist im Museum Folkwang in Essen zu sehen – ein intellektuelles und irritierendes Gesamtkunstwerk.
Tiefes Donnergrollen dringt von Ferne ans Ohr. Aber noch ist man damit beschäftigt, alte graue Steine zu befühlen. Ihr jeweiliges Gewicht wird auf einer Tabelle in Relation gesetzt zu menschlichen Körperteilen, zugeordnet nach Körpergröße und -gewicht – wozu auch immer das gut sein soll. Wieder ertönt das archaische Trommeln wie der Zorn antiker Götter. Sie haben allen Grund zu toben: Es ist die menschengemachte Erderwärmung, die hier verhandelt wird. Nebenan nämlich, in der großen Ausstellungshalle des Folkwang Museum, hat der US-amerikanische Starchoreograf Richard Siegal seine Langzeit-Performance »Lunar Cycle« eingerichtet.
In Köln kann man Siegal und sein Ballet of Difference nicht mehr sehen, nachdem man ihm dort den Stuhl vor die Tür gestellt hat. Doch in Essen hat er die Gastprofessur »Zeitgenössischer Tanz« an der Folkwang Universität der Künste übernommen, um mit den Tänzer*innen des Folkwang Tanzstudios und Studierenden des Masterstudiengangs Tanzkomposition die höchst aufwendige, immersive Performance zu erarbeiten.
Geodaten und Bass Drums
Tanz, Licht, Nebelskulpturen, Musik. Die Klangwelten entfalten sich in Live-Konzerten des Ensembles Musikfabrik sowie einer Vierkanal-Soundinstallation des Elektronik-Pioniers Kurt »Pyrolator« Dahlke. Die Choreografie basiert auf wissenschaftlichen Daten. Das ist nicht neu, nutzte doch schon Merce Cunningham, Ikone des Postmodern Dance, seit den 1990ern das Computerprogramm LifeForms zum Choreografieren: Cunninghams legendäres Tanzstück »Ocean« inspirierte Siegals Werk. Es sind Geodaten der Eisschmelze und eine Langzeitstudie über die Haltung der US-Bevölkerung zur Erderwärmung, die per Algorithmen in Tanz übersetzt werden.
Über den Zeitraum eines vierwöchigen Mondphasenzyklus‘ erkundet diese sich fortlaufend entwickelnde Tanzinstallation die Auswirkungen des Klimawandels – auch unter Einbeziehung kosmischer und irdischer Zyklen. Das klingt hochambitioniert. Draußen leuchtet der weiße Vollmond – es kann also losgehen.
Das Donnergrollen erzeugt Dirk Rothbrust an vier gewaltigen Bass Drums. Die Ausstellungshalle, 1200 Quadratmeter groß, ist zur Bühne geworden – für Künstler*innen und Zuschauer*innen. Letztere sind eingeladen, sich als Teil des »performativen Ökosystems« zu verstehen. Das Licht wird gedimmt. Kleine Nebelmaschinen von der Größe einer Taschenlampe hängen von der Decke. Ab und an puffen sie Dampfwölkchen in die Luft – was für ein verschwörerisches Schmunzeln im Publikum sorgt. Im hinteren Teil tanzt ein blondierter Performer in einem Kreis, der eingefasst ist von einem illuminierten weißen Ring. Eine Pose erinnert an den berühmten Nijinsky-Faun. Doch den lässt er schnell hinter sich und wirbelt in Siegals gedrechselter Feinmotorik umher. Eine Tänzerin auf Spitze gesellt sich hinzu, nutzt ebenfalls sämtliche Körperachsen, rotiert schwungvoll. Präzisionsarbeit. Hier, in der Verbindung von akademisch-klassischer Beinarbeit und dem Spiel mit Oberkörperwellen, finden sich Verweise auf die Legende Cunningham.
Im vorderen Teil der Bühne sorgt jetzt ein Trio für Bassklarinette, Trompete und Schlagzeug für eine düstere, bedrohliche Klangwelt. Es wird dunkel – eine Tänzerin fällt hinten über. Großartig, wie die Bläser ein Klirren, Knirschen und Knarzen erzeugen, als wäre der weiße Kreis eine Eisscholle, die auseinanderbricht. Tänzer*innen kommen hinzu, verteilen sich dynamisch im Raum. Langgezogener Klagegesang der Instrumente erfüllt die Luft.
Das intellektuelle Gesamtkunstwerk hinterlässt bei vielen Besucher*innen Irritation. Es wäre spannend zu verfolgen, wie sich das Ökosystem »Lunar Cycle« in den kommenden Wochen entwickelt. Glücklich kann sich schätzen, wer in der Nähe des Museum Folkwang wohnt – die Eintrittskarte berechtigt zum mehrmaligen Besuch: donnerstags und freitags 10 bis 20 Uhr, samstags und sonntags 10 bis 18 Uhr.
Bis 13. April
Museum Folkwang, Essen