Der Choreograf Richard Siegal liebt das Risiko. Für seine Produktion »Roughhouse« hat er ein Theaterstück geschrieben, das er mit Tänzer*innen und Schauspieler*innen auf die Bühne brachte. »New Ocean« war eine komplexe wie spröde Tanzpartitur auf der Basis von Klimadaten. Unter dem ironischen Titel »One For The Money« kündigte er nun eine Kapitalismuskritik in Ballettschritten an. Als die Hygienebestimmungen immer weniger Publikum zuließen, änderte Siegal den Titel in »All For One And One For The Money« und plante zur Live-Performance ein paralleles interaktives Streamingangebot – dann kam der Shutdown und die Uraufführung wurde komplett ins Internet verlegt.
Mediale Überforderung
Was Richard Siegal dort nun zeigt, ist weit mehr als ein gestreamter Ballettabend. Das Stück versucht nicht weniger als die Erforschung einer szenischen Internet-Kunst. Wer ein Ticket für die Vorstellung erstand, gelangte über einen Link auf eine Internetseite, wo unter drei Streams gewählt und jederzeit gewechselt werden konnte. Gleichzeitig lief am rechten Bildschirmrand ein Chat mit. Zwei zusätzliche Privatstreams konnten während der anderthalbstündigen Performance noch gegen einen frei gewählten Beitrag zugebucht werden und QR-Codes im Bühnenbild beamten die Zuschauer*innen per Handyfoto auf Webseiten als zusätzliche Erweiterung.
Die Überforderung der User*innen war offensichtlich gewollt. Auch wenn in zwei der drei Hauptstreams Schauspieler des Kölner Ensembles (Alexander Angeletta, Yuri Englert) vor allem Videogames spielten, erforderten doch die Texte, die sie dabei sprachen, eigentlich volle Aufmerksamkeit. Die wurde allerdings unmöglich, sobald sich die Zuschauer auf das Chat-Angebot einließ, das als interaktivster Teil des Stückes nicht unwichtig ist, weil es als anonymer Live-Kommentar den wohl größten Unterschied zum stillen Ausharren im Zuschauerraum darstellt.
Gamer und Influencer
Während der Uraufführung brach sich im Chat schon nach einer Viertelstunde Unmut Bahn: Nach einigen kurzen Tanzsequenzen in Stream 1 war der erst mal wieder schwarz. Stattdessen blieb nur, den Gamern zuzuschauen. Zu wenig Tanz für erste Zuschauer*innen, die anmerkten, sie hätten für etwas anderes Tickets gekauft und ihren Ausstieg ankündigten. Wer jetzt die Privat-Streams zuschaltete, konnte Tänzer Mason Manning dabei zuschauen, wie er im Bademantel vor dem Depot seine eigene Make-up-Linie promotete. Influencer mit hohem Trash-Faktor.
Mit niedlichen Katzen, Kryptowährungen, Mimojis, Gaming-Streams, Click-and-Buy, Influencer-Hype und Chat-Anonymität warf Siegal vieles ins Rennen, was stellvertretend für den enfesselten Netzkapitalismus steht. Das nervte. Weil es am falschen Platz zu sein schien. Weil die Erwartung von Kunst, von Konzentration konsequent unterlaufen wurde. Die Aufmerksamkeitsspanne im Internet ist gering, viel geringer als in einem dunklen Theatersaal. Einer gestreamten Theateraufführung über Stunden konzentriert zu folgen, wird durch die Attraktionen, die nur einen Klick weiter lauern, zunichte gemacht. Noch schnell ein Buch bei Amazon bestellen? Nebenher lesen, was die Kritik über die Aufführung schreibt? Eine kurze Recherche auf Wikipedia zum Stückautor? Es scheint so selbstverständlich. Dadurch, dass Siegal das alles hier in die Aufführung implementierte, wurde es zur Zumutung.
Das auszuhalten, lohnte allerdings: Gegen Ende kam dann doch noch der Tanz zu seinem Recht. In einer großen, live getanzten Sequenz spielte Siegal alle seine Kunstfertigkeiten als Choreograf und Bilderfinder aus. Zu der pumpenden elektronischen Musik von Lorenzo Bianchi Hoesch warf sich das Ensemble in die komplexen, hochenergetischen Bewegungserfindungen ihres Chefs. Die von Linienrastern überzogenen Kostüme von Flora Miranda verschmelzten zu einer Einheit mit den Video-Projektionen von Matthias Singer, die zunächst Bar- und QR-Codes auf Bühnenboden und fahrbare Wandelemente warfen und dann zersplitterte Industriearchitekturen. Schließlich verdichteten sich die Wände zu einem schmalen Tunnel, durch den kreischbunte (Daten-)Ströme rasten als wären wir in Stanley Kubricks psychedelischen 2001-Lichttunnel geraten.
Weitere Termine: 4. und 5. Dezember, www.schauspiel.koeln