Im Foyer des Schauspielhauses Bochum schickt Trajal Harrell Schauspieler*innen und Tänzer*innen über einen Laufsteg und lässt sie wie Models posieren. Sind ihre Posen männlich, weiblich oder androgyn? Sind die Kostümdetails, die mit jedem Auftritt hinzukommen, Ausdruck sexueller oder ethnischer Identität? In »Séance de Travail« spielt der Choreograf lässig und amüsant mit unseren Erwartungen und Klischees, bis sie sich in Luft auflösen.
»Die zeitgenössische Performance hat sich lange vorrangig mit dem Feminismus beschäftigt«, sagt die Tanzwissenschaftlerin Anja K. Arend. In letzter Zeit würden aber immer mehr queere Positionen und Gender-Themen Raum einnehmen. »Zum einen docken die Tanz- und Performance-Arbeiten damit an aktuelle Diskussionen in der Gesellschaft an, zum anderen arbeitet Tanz mit dem Körper und hat dadurch eine grundsätzliche Affinität zu Themen, die Identitäten verhandeln«, sagt die Tanzexpertin der Folkwang Universität in Essen.
Geschichten zwischen Mann und Frau
Längst gibt es nicht mehr nur zwei Geschlechter auf der Bühne. Doch während der zeitgenössische Tanz eine gewisse Vorreiterrolle dabei spielt, Vielfalt in die Spielpläne zu bringen, sind in anderen Bühnenbereichen alte Muster, die typischen Rollenbilder von Mann und Frau, noch immer präsent: »Das neoklassische Ballett war lange Zeit abstrakt, auf die Arbeit an der Bewegung fixiert, heute wird wieder vermehrt erzählt«, sagt Arend – und das seien eben oft Beziehungsgeschichten zwischen Mann und Frau.
Im klassischen Pas de deux ist die Frau der kostbare Gegenstand, auf Spitze kaum zu eigenständiger Bewegung fähig, weshalb sie vom Mann gehalten, gedreht und gehoben werden muss. Wäre ein Pas de deux mit neutralen Körpern überhaupt denkbar? »Ich schaue mir immer mit meinem Körper einen anderen Körper an und der besteht aus vielen Aspekten, von denen einer Geschlecht ist, den man nicht ausklammern kann«, ist Anja K. Arend überzeugt.
Tradition an Schritten und Sequenzen
Das Ballett hat eine lange Tradition an Schritten und Sequenzen, die in der Ausbildung gelernt und danach mit großer Selbstverständlichkeit abgerufen werden. Aus diesem Material ist die Tradition des Pas de deux schließlich auch gewachsen – zugeschnitten auf Mann und Frau. Dabei geht es auch um eine Hierarchisierung der Geschlechter. Allerdings eine, die noch gar nicht so alt ist. Denn in der Ballettgeschichte war die Bühne für Frauen zunächst tabu. »Im Barock tanzten ausschließlich Männer«, sagt Arend, ehe 150 Jahre später, Mitte des 19. Jahrhunderts, plötzlich ganze Compagnien fast ausschließlich aus Frauen bestanden und die Tänzerinnen die Männerrollen »en travestie« übernahmen.
Sicher ist, dass die Choregraf*innen selbst die alten Muster nur ungern verlassen. »Tanz ist in der Ausbildung und im Mainstream-Markt immer noch sehr vom Bild des weißen heterosexuellen Mannes, der sich mit seinem angeborenen Geschlecht identifiziert, geprägt«, sagt etwa Igor Meneses, der an der Folkwang Universität Tanz studiert: »Wer in diesem Markt mit einer abweichenden Gender-Identität bestehen will, sollte sie besser verstecken.« Meneses hat sehr früh angefangen, zu tanzen und sich mit Rollen auseinanderzusetzen. »Mit zwölf wusste ich, dass ich schwul bin. Das konfrontierte mich mit der Genderdiskussion, und ich lernte die Begriffe kennen. So habe ich angefangen, das binäre Geschlechtersystem zu hinterfragen und zu dekonstruieren.« Weiblichkeit sei für ihn immer ein Thema gewesen, schon seit seiner Kindheit – Empfindungen, die man in seiner Heimat Brasilien aber konsequent unterdrückte. »Am Schluss stand die Erkenntnis, dass ich die Möglichkeit habe, mein Gender unabhängig von dem Geschlecht, dem ich durch Geburt zugerechnet wurde, zu wählen.«
Geschlechterrollen verändern sich
Geschlechterrollen sind eben veränderbar – nicht zuletzt im Theater, in dem es flexiblere Strukturen gibt. Manchmal flexiblere, als im Rest der Welt. Heute identifiziert sich Meneses als genderfluid: »Zurzeit fühle ich mich mit einem männlichen Erscheinungsbild gut, das kann sich aber auch wieder ändern und ich möchte nicht darauf reduziert und festgelegt werden.« Den Freiraum für ein Arbeiten jenseits binärer Geschlechterbilder schafft sich Meneses heute selbst – in einem eigenen Tanz-Kollektiv mit Kommiliton*innen.
Wie aber löst man all die alten Muster und Hierarchien unter den Geschlechtern? »Es muss genau untersucht werden, was auf Geschlecht beruht, was auf Tradition und was auf körperlichen Voraussetzungen«, sagt Arend. Grenzen zu verschieben, könne auf ästhetischer Ebene durchaus spannend sein. »Aber am dringlichsten ist aus meiner Sicht, dass sich die Compagnien auch organisatorisch und strukturell verändern«, so die Expertin – nicht zuletzt auch, was die Besetzung von Führungspositionen angeht. Aber auch angesichts der täglichen Arbeit. Zuletzt wurden immer wieder Fälle von sexuellen Übergriffen und Demütigungen bekannt, etwa an großen Häusern wie dem New York City Ballet oder der Ballettakademie der Wiener Staatsoper.
Wie wäre es aber, wenn der Tanz alle Fragen nach Geschlecht und Gender hinter sich ließe? Eine Compagnie, die diese Frage sehr konsequent angeht, ist CocoonDance in Bonn: »Wir arbeiten nicht mit Tänzer*innen, sondern mit Körpern, die sich bewegen«, sagt Choreografin Rafaële Giovanola, die – ebenso wie ihr Dramaturg Rainald Endraß – folglich immer einfach nur von »Körpern« spricht. »Wir sind auf der Suche nach dem nichtmenschlichen Körper, deshalb hat uns Gender eigentlich nie interessiert«, sagt Endraß. Dann aber fügt er einschränkend hinzu: »Es kann auch sein, dass unsere Suche nach dem posthumanen Körper nur eine Ausflucht ist, um uns nicht mit Geschlecht und Gender beschäftigen zu müssen.«
In den zwei Arbeiten »Momentum« und »Vis Motrix« ist Giovanola ihrer Idee bisher am nächsten gekommen. Die erste wird von drei Männern, die zweite von vier Frauen getanzt. Ein Widerspruch? »Zunächst war es einfach Zufall, dass wir Momentum nur mit Männern gemacht haben. Dann war es der Wunsch der Frauen in der Compagnie, auch ein Stück zu haben«, erzählt Giovanola. »Der Vorteil an der Trennung der Geschlechter ist, dass es keine Geschichte gibt. Sobald ein Mann und eine Frau auf der Bühne sind, egal ob sie sich ansehen oder nicht, stellt das Publikum eine Verknüpfung her und liest es als Beziehung. Seit Momentum versuchen wir, komplett in der Abstraktion zu arbeiten. Das fällt leichter, wenn auf der Bühne nur ein Geschlecht vertreten ist.« Ob die Zuschauer*innen den abstrakten Blick auf den Körper jenseits von Geschlecht und Gender bereits verinnerlicht haben, wird sich bei der nächsten Arbeit von CocoonDance erweisen. Dann ergänzt Giovanola »Momentum« und »Vis motrix« zu einer Trilogie – mit einem Stück, in dem Männer und Frauen dann wieder gemeinsam tanzen.