Es war in Mailand, im Jahr 2001. Avi Kaiser choreografierte gemeinsam mit Susanne Linke eine Arbeit für die Abschlussklasse. Unter den Tänzern: Sergio Antonino. Fast 20 Jahre lang war er ihr choreografische Assistent und Tänzer gewesen, hatte mit der Ikone des deutschen Tanztheaters zusammengearbeitet. Doch an der Paolo Grassi Accademia di Arte Drammatica begann für den Israeli plötzlich ein neuer Weg. »Wir hatten schnell eine tiefe Verbindung«, erinnert sich der heute 67-jährige Avi Kaiser an seine erste Begegnung mit Sergio. Aus der schließlich eine bis heute erfolgreiche künstlerische Gemeinschaft entstand, die nicht nur die Kulturszene in Duisburg belebt, sondern auch das Tanzschaffen in NRW. Und, ja tatsächlich, weltweit.
Die beiden sollten Jahre später gemeinsam das Kaiser Antonino Dance Ensemble gründen, ihren »The Roof TanzRaum« im Duisburger Innenhafen eröffnen, quasi Residenzkünstler des DKM Museums werden. In erster Linie aber fanden sie bei jener Begegnung damals in Mailand vor allem eins: ein neues Lebensglück.
Doch der Anfang gestaltete sich schwierig. Da war zunächst die räumliche Distanz zwischen Italien und Deutschland. Der heute 47-jährige Antonino lebte damals in Mailand als Choreograf, Kaiser in Essen, wo Linke, nah am Folkwang Institut, beheimatet war. Avi Kaiser: »Wir mussten viel reisen.« Hinzu kam das private Umfeld. 1999 wurde er von seiner Frau, mit der er drei Kinder hat, geschieden. »Es war alles nicht einfach«, erinnert sich der Tanzkünstler. »Aber heute sind wir alle eine große Familie, verteilt über Italien, Israel, Belgien und Mexiko.« Er strahlt. Und fügt ein bisschen stolz hinzu, dass er sich im Februar auf das sechste Enkelkind freut.
Ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung geschah das, was die beiden heute als »Wunder« bezeichnen. Avi Kaiser hatte zwei befreundete Komponisten im Duisburger Innenhafen besucht. Die Atmosphäre an diesem Ort gefiel ihm so gut, dass er sich gedanklich dorthin wünschte. Zwei Monate später rief einer der Freunde an und berichtete, dass über einer Druckerei ein 300 Quadratmeter großes Dachgeschoss zur Vermietung angeboten werde. »Es ging alles ganz schnell. Die Stadt und das Lehmbruck Museum waren zu einer Kooperation bereit. Ich sagte Sergio, dass er nach Duisburg kommen müsse, weil wir hier etwas aufbauen können.« Das war im Jahr 2002.
»The Roof TanzRaum« steht heute auf einem Schild neben der Tür des Gewerbegebäudes aus der Gründerzeit, gelegen in Sichtweite des Duisburger Innenhafens. Wer über den Hinterhof und steile Treppen hinauf zu dem Dach-Atelier der beiden findet, ist erstaunt: Direkt am Eingang liegt der Tanzsaal mit alten Holzdielen, Ballett- und Kleiderstangen – aber auch Ergometer und Hanteln für die krude Fitness. Der weite und zugleich niedrige Raum, dominiert von einem mit Stahlträgern unterstützten Dach, atmet Inspiration. Die Fenster liegen auf Kniehöhe. Hier leben und arbeiten die beiden Tänzer und Choreografen nun schon seit mehr als 20 Jahren. Über den Tanzsaal gelangt man in drei weitere Räume: einen urgemütlich eingerichteten Aufenthaltsraum mit alten Ledersofas, ein Büro, ein Musikstudio. Hinter einer weiteren Tür verbirgt sich der Wohnraum des Künstler-Duos.
Rückblickend sagt Kaiser: »Dieser Ort hat uns geprägt. Er ist eine Insel, die uns eine große Kreativität erlaubt. Niemand stört uns. Und von der Druckerei unten geht eine große Energie aus.« Antonino betont, dass es hier keine Grenze zwischen Leben und Arbeiten gibt: »Wenn wir müde sind vom Tanzen, setzen wir uns hin zum Essen oder ruhen uns aus, ohne weit fahren zu müssen. Nach ein oder zwei Stunden gehen wir wieder in den Ballettsaal. Das ist ein großes Glück. Es hat unserer Arbeit einen Push gegeben.«
An diesem Ort also, der durch die direkte Nachbarschaft zum »Garten der Erinnerung« des Künstlers Dani Caravan und zur Duisburg Synagoge eine gewisse Magie gewinnt, entstehen die Arbeiten des Kaiser Antonino Dance Ensembles. Das Werk der beiden Tanzkünstler ist thematisch breit angelegt und ästhetisch geprägt durch die so verschiedenen Wesen und Ausbildungen seiner Choreografen. Schon optisch bilden beide, der eine mit hellem Blick und geschorenem Schädel, der andere mit dunklen Augen und Haaren, einen Kontrast. Hier der impulsive und emotionale Israeli, dort der ruhig und besonnen wirkende Italiener. Hier Graham-Technik und deutsches Tanztheater, dort Kunstgeschichte und moderner wie zeitgenössischer Tanz. »Es ist ein bisschen wie in der griechischen Mythologie: Dionysos und Apollon«, bringt es Antonino auf den Punkt.
Die sinnliche und intellektuelle Verbindung von Kaiser und Antonino hat eine formstrenge Ästhetik mit intensiver, bis zum Animalischen reichenden Bewegungsqualität, aber auch mit zeitgeistigen Botschaften hervorgebracht. Ihre Bühne ist nicht nur das Theater, sondern auch die Natur, der Stadtraum oder ein Industriegelände. »Protected Zone«, 2014 uraufgeführt im Schönwasserpark Krefeld, verhandelt den natürlichen Instinkt des Menschen nach Sicherheit und einem Schutzraum, weitergedacht bis in die geographisch-politische Dimension. Die »Wald Variationen« (2012) sind eine wunderschöne Metapher für die zerbrechliche Balance der Schöpfung, aufgeführt in der Natur wie im Theater. »Carré 18« (2011), ein reines Bühnenstück, feiert Form und Architektur, akzentuiert von skulpturalen Posen und Tanzattacken.
Theater zuhause und an Unorten
Die größte Aufmerksamkeit hat ihre Performance »At your Place« bekommen, die später mit dem Goethe Institut um die halbe Welt reiste – wie auch die Nachfolgeproduktion »Non Place«. Avi Kaiser: »Es war eine fantastische Idee des NRW-Kulturministeriums: Zu den Menschen, die nicht die Möglichkeiten haben, ins Theater zu gehen, sollte das Theater nach Hause kommen. Wir haben die finanziellen Mittel bekommen, aber keinerlei Vorgaben.« Die beiden mussten sich etwas einfallen lassen. Was mit einer Performance bei Freunden begann, wurde schließlich zum Event in New York: Theater on demand. Im Rahmen der Kulturhauptstadt Essen 2010 gab es Leseraktionen in Zeitungen, bei denen ein Tanzabend zu gewinnen war. Kaiser: »An jedem noch so kleinen Ort war eine Performance machbar. Es war eine wunderschöne Erfahrung, Leute kennenzulernen.« Für »Non Place« begab sich das Duo anschließend an Unorte: an Autobahnkreuze oder in industrielle Gebiete. Die Uraufführung fand in einem leeren Kaufhaus stand, eine Koproduktion mit den Duisburger Akzenten – wie fast alle Produktionen von Kaiser Antonino Dance. Drei Jahre, von 2013 bis 2015, war das Ensemble damit auf Tour.
In der Kunst ist ein Teil der Arbeit allerdings immer auch der Konflikt – umso mehr, wenn gleich zwei Choreografen am Werk sind. So ist die enge berufliche und private Partnerschaft nicht nur ein Segen, sondern auch Fluch. Kaiser: »Wir sind am Anfang nie miteinander einverstanden, immer gibt es Reibung, viele Diskussionen. Es ist immer ein großer Kampf zwischen uns.« Jeder Choreograf ringe mit sich selbst, die beiden auch noch dem jeweils anderen. So steht automatisch mit jeder neuen Arbeit auch Ärger ins Haus? Kaiser: »Ja, das ist der Preis. Wir tragen jeden Konflikt im Privatleben weiter aus. Aber das macht das Leben auch reicher.«
Nächste Termine (im Rahmen der Duisburger Akzente): Das Duett »When Air is still around« (Deutschlandpremiere) findet am 2. April, 20 Uhr, in der Liebfrauenkirche in Duisburg statt. »Hommage an Dani Karavan« wird am 3. April, 17 Uhr, im Garten der Erinnerung (Ludwigsforum) im Duisburger Innenhafen gezeigt.