Der belgische Choreograf Michiel Vandevelde hat auf PACT Zollverein in Essen einen Film gedreht: »Ghosts Of The Past«. »A Film Document« heißt es im Untertitel. Die Geister, die er ruft, stammen aus seinen bisherigen Werken. Eine Art »Best of Vandevelde«, beginnend mit »Love Songs (veldeke)« von 2012 bis zum 2021 entstandenen »Dances Of Death«.
Überheblich, arrogant, größenwahnsinnig? Rechtfertigt eine nichtmal zehnjährige Laufbahn als Choreograf – und bis heute hochgehandeltes wie umstrittenes Junggenie – wirklich schon die Rückschau? Angst vor großen Themen hatte Vandevelde noch nie. In Zeiten, in denen knapp über 20jährige Popsternchen ihre Biografie verfassen und One-Hit-Wonder »Greatest-Hits-Alben« herausbringen, darf ich das schon lange – mag Vandevelde sich gesagt haben.
Der Film selbst wischt alle Zweifel an seiner Berechtigung schon in den ersten Minuten der knappen Stunde seiner Laufzeit beiseite. Komplett mit einer Drohne gedreht, schwebt der Blick durch die leeren Räume der ehemaligen Waschkaue und ihrer angrenzenden Gebäude. Eine immer bewegte Perspektive, entkörpert und doch enorm präsent. Die Kamera kommt den Tanzenden ganz nah, geht dann wieder auf Abstand, verliert sie in der Bewegung auch mal fast aus dem Blick, dann schaut sie von oben herunter. Nie aber ist die Perspektive die, die Zuschauer*innen gewohnt sind: starr vom festen Platz aus in stets gleicher Entfernung und Richtung auf das Bühnengeschehen. Geisterhaft sind hier nicht nur die in den Ecken des Gebäudes auftauchenden Tänzer*innen, sondern auch das schwebende und suchende Kameraauge.
Vandevelde forscht in den Bruchstücken seiner Arbeiten nach dem Verbindenden, den wiederkehrenden Bewegungen, Haltungen und Stimmungen. Er findet das hörbare Auftreten auf den Boden, als wäre es die einzige Möglichkeit der körperlosen Seelen, sich im Diesseits bemerkbar zu machen. Ein Zeichen an die Lebenden. Wir sind noch da. Auch der Schlag mit der Hand auf den Boden – manchmal zur Faust geballt – kehrt immer wieder. Wütend, dass dieser Boden die Tänzer*innen festhält, nicht loslässt, die Schwerkraft auch durch noch so viel Kunstfertigkeit und Training unüberwindlich bleibt.
Nach einer Art Präludium im Nebengebäude findet die Kamera Vandevelde selbst nackt im breiten Eingang von PACT. Er beginnt in radikaler Auslieferung die Körperschau. Auf dem Weg von einer Szene zur nächsten, eröffnen eingeblendete Texte Gedankenräume. Hier heißt es »How could the ruins and ghosts of the past help us to construct the future?«. Ein Leitthema, nicht nur für diesen Film, sondern die ganze Arbeit von Vandefelde.
Ein ruppiges Trio voller Aggression und Kampf folgt. Später werden die Tänzer*innen des Folkwang Tanz Studios eine Gruppenchoreografie aus »Neuer Neuer Neuer Tanz« zeigen. Künstlich in die Kamera grinsend wie eine Showtanzgruppe auf Acid – und das zu den absurd verfremdeten Klängen von Edgar Varèse’ »Poème électronique«.
Im oberen Flur eine Tänzerin ganz in Weiß als Mensch-Maschine bei ihrem verzweifelten Versuch menschlich zu werden. Bestrahlt von kühl hellem Licht, das seitlich durch die großen Fenster fällt. Immer wieder wird das Gebäude selbst zum Mitspieler, prägt den dramaturgischen Fluss durch den Wechsel von Dunkelheit, künstlichem und natürlichem Licht. Der Rhythmus der Backsteine, die Folge von langen Gängen zu weiten Räumen, die Aufwärtsbewegung der Treppenstufen. Aus der Perspektive der Kamera wird all das selbst zur Choreografie, zur großen Liebeserklärung an diesen Ort.
Draußen auf dem Platz steht eine Gruppe heulend und jammernd im Kreis. In ihrer Mitte, wo eigentlich das Objekt der Trauer sein müsste, eine Leerstelle – wie in Samuel Becketts »Quadrat I+II«. Der Kreis weitet sich und wird zur ritualisierten Klagechoreografie. Kunstvolle Folie für die Betrachter*innen, die das Zentrum mit ihren je eigenen Verlusterfahrungen füllen müssen. Und dann schwebt die Drohne hoch über das Dach des Gebäudes zum letzten Tanz in der goldenen Abendsonne. Pathos? Ja, in seiner reinsten Form und wunderschön.
Uraufführung: 10. Juni 2021, 19 Uhr (danach abrufbar bis 31. August 2021)