Drei Teile, drei Namen, drei Schicksale: Evá, Léna, Jonás. Das erste Kapitel eröffnet – als Prolog – eine unterweltliche Raumanlage aus Beton, Gitterwerk und Sickerwasser. Zwielicht herrscht an dem Unort. Drei Männer, Getriebene, schuften und schrubben das feuchte, abblätternde Gemäuer. Sie finden Büschel von Menschenhaar in Ritzen, Löchern, Rohren: immer mehr. Dann verstreuen sie Kalk aus Eimern. Alles stumm, nur ihren abgehetzten Atem hören wir, das Schwemmen des Wassers und auf einmal Kindergeschrei. Sie finden ein Baby und bringen es nach draußen in den Winter, wo Soldaten der Roten Armee und das Rote Kreuz sie empfangen. Flugzeuge kreisen am Himmel, Pferdewagen transportieren Leichen. Ein Motorrad bringt das Kind in Sicherheit. Die Kamera hebt ab und zeigt aus der Höhe ein riesiges akkurat gezogenes Areal aus Baracken.
Teil Zwei des Triptychons. Eine alte Frau (Lili Monori) im Nachthemd mit aufgelöstem Haar sitzt am Küchentisch, ihre Tochter (Annamária Láng) kommt, um sie abzuholen zu einer Zeremonie, bei der die Mutter eine Auszeichnung erhalten soll. Ja, sie bewältigen ihren Alltag, aber was Einbildung und was real, verschwimmt. Sie wühlen in Familienpapieren. »Der Holocaust hat mein Leben geprägt, aber mein Jüdisch-Sein kann ich nicht beweisen«, erregt sich Léna. Die nach 1945 mit den Traumata von Deportation, Auschwitz und den Versuchen des Dr. Mengele an ihrer im KZ geborenen Mutter und deren Mutter aufwuchs, und in Berlin nachforscht, um ihre Identität zu beweisen, damit ihr Sohn Jonás leichter einen Kindergartenplatz erhält. Aber die alte Mutter hat furchtbare Angst davor, neuerlich erfasst und kenntlich zu werden, ihren Namen auf Listen einzutragen. Es hat mit ihrer Scham zu, den Tätern von damals etwa schuldig und gegenüber den Opfern als ‚glücklich’ am Leben geblieben zu sein.
Ein verdichtetes Kammerspiel, in dem hinter dem Alltag in Budapest die Tortur des Über-Lebens auf der »Eisscholle«, beständiges Krisenbewusstsein, Misstrauen, Verlustangst herrschen. Dazu die Erfahrungen der Drangsale unter dem Kommunismus, der Ungarn-Aufstand, der nach Israel mit seiner neuen Familie ausgewanderte Vater: Erinnerung, schweig – besser! Am Ende flutet ein Wassereinbruch die Wohnung, zerstört alles – oder reinigt und spült fort.
Inspiriert von Ligetis Requiem
Teil Drei spielt im regennassen Berlin: Jonás (Goya Rego), der nicht weiß, wer oder was er ist, hat schulfrei. In der Schule brach Feuer aus: die Gegenkraft zum Wasser. Er wird von Gleichaltrigen angemacht, läuft mit einem Mädchen durch die Stadt, spielt zuhause Klavier, klebt sich Gummi-Wunden ins Gesicht, die Mutter diskutiert mit einer floskelhaft verdrucksten Vertreterin der Schule über »aus dem Nahen Osten importierte« Diskriminierung. Die Episode endet mit einem Kuss – am Wasser.
»Evolution«, ursprünglich ein Theaterprojekt, das 2019 bei der Ruhrtriennale herauskam, wurde zum Film – und ist in beiden Versionen ein Ereignis. Inspiriert von György Ligetis Requiem, türmt der Dreiakter ein Mahnmal der Menschheits-Katastrophe Shoa und trägt es ab. Wovon wir zwar eine Vorstellung haben, was wir historisch verorten und mit Fakten und Zahlen auffüllen, wird hier zur individuellen Geschichte über drei Generationen ungarischer Juden – fremd mitten in Europa. Zeit heilt keine Wunden, sondern hält sie offen. Nichts wird erklärt und aufgelöst. Das Rätsel, das Kunst sein muss (und Leben darstellt), bleibt. Transportmittel ist das Element Wasser: Lebenselixier, Welle der Vernichtung, wie Lethe Vergessen schenkend und den Fluss der Gedanken symbolisierend.
»Evolution«, Regie: Kornél Mundruczó, Ungarn / D 2021, 95 Min.