Häufig tragen Familienserien im Titel Name oder Adresse derer, um die es geht. Etwa die Daltons und die Partridge Family in den USA, die deutschen Hesselbachs und Drombuschs, die britischen Ladies und Gentlemen vom Eaton Place oder aus Downton Abbey. Die bundesrepublikanische Berliner Urfamilie der »Unverbesserlichen« mit Inge Meysel war da eine Ausnahme, vielleicht weil »Die Scholz’ens« zu gewöhnlich geklungen hätten. Ihnen gemeinsam ist, dass ihr Leben sich gewissermaßen bei uns nebenan, gelegentlich eine soziale Stufe oder Etage höher, abspielen könnte. Das Vertraute macht, dass wir uns dort einrichten und wohlfühlen.
Bei »Shtisel« ist das nicht so, jedenfalls nicht direkt zu erkennen. Es sind streng religiöse, im Gesetz lebende Juden im Jerusalemer Stadtteil Geula, die nicht nur die Gojim, sondern auch die »Zionisten« im eigenen Staat schon mal unter den Fluch stellen – mag es auch bloß eine Redewendung sein. Eine fremde, in sich geschlossene Welt also, in der selbst noch ein Glas Wasser mit dem Lobpreis Gottes auf den Lippen getrunken wird, mit koscherer Küche, Heiratsvermittler, lebenslangem Thora-Studium der Männer und arbeitenden Frauen für den Lebensunterhalt der oft kinderreichen Familien. Wobei bereits der Erwerb des Führerscheins und eigenen Autos das zementierte Gefüge der Geschlechterrollen stark erschüttert. Es gilt das Bilderverbot, das Großmutter Shtisel im Altenheim treuherzig missachtet und das bei ihrem Sohn Shulem in einer krassen Szene dazu führt, dass er in biblischem Zorn Hand anlegt an ein Gemälde.
Zumeist aber – dies wiederum eine allgemein jüdische Qualität – findet sich ein gewitzter (säkularer) Ausweg. Das Allzu-Menschliche erhält Einlass ins Gesetz. Das jiddische Wort »sei a Mensch« als höchstes Prädikat für uns Gottes- und Weltkinder spricht davon.
Vater Shulem Shtisel (Dov Glickman), Lehrer und Leiter einer orthodoxen Cheder (Grundschule), ist Witwer zu Beginn der ersten von drei Staffeln (auch die jüngste ist bei Netflix erschienen, während in den USA ein Remake vorbereitet wird). Er liebäugelt zwar auch für sich selbst mit einer neuen Ehefrau, vorrangig jedoch für seinen bei ihm lebenden Jüngsten Akiva, genannt Kive (Michael Aloni), der verträumt in der Tradition des romantischen Taugenichts steht. Er unterrichtet ebenfalls als Rebbe, aber eigentlich zeichnet er lieber. Kives Emanzipation von den Regeln der Gemeinschaft bei bleibender Treue gegenüber der frommen Grundhaltung, als Mann und als Künstler, steht im Zentrum. Wie überhaupt Revolte und Versöhnung die Pole innerhalb der Familie sind, besonders bei Shulems Enkelin Ruchami Weiss (die großartige Shira Haas, die auch Maria Schrader für ihre in Berlin spielende Miniserie »Unorthodox« besetzt hat) im Kampf um ihr Glück.
Es wird geliebt, werden Ehen gestiftet, Trennungen vollzogen, Kinder geboren. Es gibt scharfkantige Konflikte, die die Neigung des Zuschauers zum gemütlichen Betrachten aufreißen. So erfahren wir etwa zu Beginn der dritten Staffel abrupt beiläufig, dass Kives schwer errungene große Liebe Libbi tot ist und er mit dem Baby allein.
Vermutlich haben sich die Macher von »Shtisel«, Ori Elon und Yehonatan Indursky, umgeschaut und Ingmar Bergman und Edgar Reitz in den Blick genommen. In »Fanny und Alexander« wie auch in der »Heimat«-Chronik, die ein europäisches Fernseh-Ereignis war, endet jeweils die Familiengeschichte mit einem Fest der Lebenden und der Toten. Die Wand zwischen beiden ist porös. Der Büchermensch Shulem sagt es mit einem Zitat des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer: »Jeder Mensch ist ein Friedhof«, auf dem die Erinnerungen an all die Verstorbenen ruhen. Aber die Toten ruhen nicht, sie sind vital anwesend, mitten unter uns.
(Verfügbar auf Netflix)