Der norwegische Psychiater Finn Skarderud provoziert mit der Theorie, dass dem Menschen 0,5 Promille Alkohol im Blut fehle, um ihn zu einem besseren Menschen zu machen, im Sinne von fitter, selbstbewusster, energievoller, womöglich sozial kompatibler. Dieser steilen These folgt der dänische Regisseur Thomas Vinterberg mit seinem filmischen Experiment: vom Stillstand auf 0,5 und dann auf 200 durch die Decke psychogesunder Stabilität. »Da geht noch was und da geht noch mehr«, sagt Martin (Mads Mikkelsen).
Das Quartett diskutiert die Alkoholkur und lässt sich auf sie ein, systematisch, kontrolliert (so glauben sie), nach strikten Spielregeln à la Hemingway, der nur über Tag getrunken haben soll. Jedenfalls gilt für die Vier: kein Tropfen nach 20 Uhr und am Wochenende.
Siehe da, der élan vital steigt. Martin fühlt sich prima und performt und putscht mit Hilfe des Suchtpegels sein Leben. Am Pult werden er, der Geschichtslehrer, und seine Kollegen Peter und Tommy zu emphatischen Pädagogen wie Robin Williams in »Der Club der toten Dichter«, und auch zu Hause, mit seinen zwei Kindern und im Bett mit seiner Frau Anika (Maria Bonnevie), ist Martin ein Muntermacher. Aber es bleibt nicht beim positiven ‚Therapieerfolg’. Das Euphorisierende ist nur die andere Seite dessen, was es an Leerstand und Beschwernis in ihrem, in jedem Leben gibt: aufgegebene Illusionen, gescheiterte Hoffnungen, die verlorenen Träume der Jugend.
Mikkelsen, der für Vinterberg das ist, was Cary Grant für Alfred Hitchcock war, bietet die ideale Charakterrolle für den Leib und Seele strapazierenden krassen Testfall. Am Anfang ist der sich abgeschlafft fühlende, wie ausgeglühte Lehrer, dem die Eltern seiner Schüler matten Unterricht vorwerfen, abstinent. Zum Essen im Restaurant mit seinen Freunden und Kollegen Tommy (Thomas Bo Larsen), Nikolaj (Magnus Millang) und Peter (Lars Ranthe) bestellt er Wasser ohne Zitrone. Doch dann greift er zum ersten Glas Wein…
Am Ende von »Der Rausch« ist er Tänzer seines Lebens. Das Leben als »beautiful ride«, wie eine Zeile des Songs heißt, zu dem Martin auf der Abiturfeier seiner Klasse sich fallen lässt, ganz bei sich ist, indem er aus sich herausgeht, sich auspowert. Zwischendurch stürzt er ab und ist krisengeschüttelt. Mikkelsen übersetzt diese Gehirn- und Seelenwäsche grandios in körperliche Expression. Wir müssen ihm nur ins Gesicht schauen – darin steht alles geschrieben, das Ernüchternde und das Explosive, alles, auch die mittlere Temperatur.
Über Risiken und Nebenwirkungen informiert der „Der Rausch“, der neben dem Oscar vier Europäische Filmpreise gewonnen hat. Vinterberg hat immer mit seinen Filmen herausgefordert, aber anders als Lars von Trier, sein einstiger Mit-„Dogma“-tiker, ist er nicht abgedriftet ins exzentrisch Esoterische und Dubiose. Von „Das Fest“ über „Die Jagd“ und „Die Kommune“ bis zu „Der Rausch“ – schon die Titel zeigen an, worum es Vinterberg geht: das Durchdringen sozialer Einrichtungen, kultureller Übereinkünfte, tradierter Normen und um das Ausmessen des Verhältnisses von Freiheit und Verantwortung, Egozentrik und Selbstbesinnung.
Der moralische Imperativ ist in Vinterbergs Filmen nicht leicht zu finden, so wenig wie seine Geschichten eindeutig dem Genre Komödie oder Drama zuzuordnen sind. „Der Rausch“ ist kein „Lost Weekend“, wie Billy Wilders den Standard setzender Anti-Alkohol-Film mit Ray Milland von 1945. Vinterberg verweigert auf verstörende Weise den appellativen Gestus. Bei ihm ist das Leben Höhenrausch und Erfahrung von schwärzester Tiefe.
„Der Rausch“, Regie: Tomas Vinterberg, Dänemark 2020, 115 Min., Start: 22. Juli