Manchmal reicht ein Satz aus, um binnen Sekunden mit wenigen Worten alles zu sagen. Bei Kim Münster ist es der Satz: »Ich hatte immer schon den Wunsch, Geschichten zu erzählen.« Er enthält eine Wucht, die Gedanken sofort einander jagen lässt und Bilder hervorruft. Kopfkino. Wie im Film. Womit wir bei Kim Münsters »alles« sind: Die 39-Jährige ist Filmemacherin. Wie ihre Kolleginnen Karla Stindt (29) und Sofia Ose (28). Und wenn diese drei an einem Ort wie diesem zusammensitzen und über ihren Beruf sprechen, dann sind es eben Sätze wie der von Kim Münster, die zeigen, dass dieser Beruf für sie mehr ist als ein stinknormales Alltagsgeschäft. Er ist eine Berufung.
Die drei Frauen sitzen in einem Büro an der Wuppertaler Hofaue. Hier im oberen Stockwerk des Hauses Nummer 59, inmitten einer urbanen Gemengelage zwischen Altbauten und neu gestalteter Stadtmitte, die regelmäßig erfüllt ist vom nicht fernen Quietschen der Schwebebahn, ist das Medienprojekt Wuppertal beheimatet. Eine Organisation, die sich einst dem Filmemachen verschrieben und seit 1992 zur wichtigsten Jugendvideoproduktion in Deutschland entwickelt hat. Kim Münster, Karla Stindt, Sofia Ose und zig weitere junge Filmautor*innen sowie Filmemacher*innen haben hier ihre ersten Schritte in Richtung einer professionellen Beschäftigung mit dem Film getan. Leiten heute selbst den Nachwuchs des Metiers an – Schulklassen, Studierende, Jugendgruppen – und vermitteln ihnen den Film entweder als reines technisches Handwerk oder als eigene Form von Kunst. Und nehmen sich das Medienprojekt mit seinen Menschen vom Fach und in seiner Funktion als Pool von Film-Idealist*innen und Film-Liebhaber*innen zur Basis ihres Schaffens.
Kim Münster sagt, sie habe schon als Jugendliche, lange vor ihrem Studium an der FH Dortmund, Filme gemacht. »Ich habe schon mit 16 angefangen, die Kamera in die Hand zu nehmen und war damit in der Schule unterwegs.« Sie interviewte Mitschüler*innen. Drehte kleine Streifen, wenn es auf Klassenfahrt ging. Erzählte eben: »Geschichten«. Weil sie mit der Kamera in der Hand ergründen könne: »Warum sind Menschen so, wie sie sind? Warum handeln sie so oder anders?« Die Rolle hinter und nicht vor der Kamera komme ihr dabei ganz gelegen: »So kann ich andere zu Wort kommen lassen – und kann auch mich mitteilen, ohne dass ich dafür selbst spontan und schlagfertig parat stehen muss.« Auslöser ihrer Begeisterung für das Medium Film sei unter anderem ihr Vater gewesen, der »sehr kulturinteressiert« sei und sie schon früh mit ins Kino mitgenommen habe. Dort sah Kim Münster 1998 »Lola rennt«, diesen zumindest in der jüngeren Historie des Genres als Blaupause des experimentellen Kinos hierzulande geltenden Film von Tom Tykwer mit seinen rasanten Schnitten und der Mischung aus Real-Dreh und Cartoon-Elementen. Der habe sie begeistert. Begeistert habe sie aber auch, »dass der Regisseur aus Wuppertal kam. So wie ich«, erinnert sie sich. »Das zeigte mir: Hey, der ist auch von hier. Und der hat sowas hingekriegt. Warum sollte ich das also nicht schaffen?« Eben. Kim Münster schaffte es.
»Irgendetwas treibt mich eben immer an«
Sie ist seit Jahren als Filmemacherin tätig. Dreht derzeit mit Treibsand-Film als einem Kollektiv von Filmbegeisterten eine Doku-Serie über Menschen mit Behinderung, die Theater spielen. Arbeitet an einem Film zum Thema «Hochsensibilität«. Und entwickelt manchmal auch Werbespots für große Mobilfunkfirmen – eine Tätigkeit, die Kim Münster indes auch die, wenn man so will, Kehrseiten des Geschäftes vor Augen führen: Damit lässt sich zwar meist gutes Geld verdienen. Aber es geht in derlei Fällen eben nur um schnöde Auftragsarbeiten, die vor allem zum – nicht leichten – finanziellen Überleben nötig seien. »Ich habe gerade wieder ein sehr lukratives Angebot auf dem Tisch liegen, das mir schlaflose Nächte bereitet«, sagt sie und lächelt ein wenig gequält. Seitdem rotiert ihr Kopfkino nämlich im Drama-Stil: Soll sie es annehmen? Oder soll sie absagen, um eigene Ideen weiterzuverfolgen? »Derzeit tendiere ich eher Richtung Absage.« Der Grund: »Mir würde die Zeit für Herzensprojekte fehlen.« Etwas, was Kim Münster nur schwer verkraften kann. »Irgendetwas treibt mich eben immer an.«
Karla Stindt bestätigt das. Sie stammt aus Unna, studierte soziale Arbeit, kümmerte sich um Obdachlose und drogensüchtige Menschen, jobbte nebenher. Spürte irgendwann »so ein Erdrückungsgefühl«, weil ihre Tätigkeiten »immer nur für ein Jahr oder kürzer« ausgelegt waren und sie doch eigentlich immer schon »etwas Kreatives« machen wollte. Und dann: Platzte das Medienprojekt in ihr Leben. Ein halbes Jahr Praktikum genügte – und Karla Stindt hatte ihre Zukunft per Kopfkino-Handschlag mit sich selbst besiegelt. Sie sah, wie das Medienprojekt arbeitete. Sah Filme. Diskutierte Filme. Registrierte, dass die aus Wuppertal stammenden Streifen regelmäßig in den regionalen Kinos vor den Blockbustern gezeigt werden und somit ein Publikum haben. Sie war zudem begeistert vom Netzwerk und dem fachlichen Wissen rund um das Medienprojekt. Und stürzte sich selbst ins Kamera-Getümmel. Was Film für Karla Stindt ist? »Es ist ein Medium, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen.« Erstens. Zweitens und vor allem aber sei es ein Medium, das ihr etwas Exklusives vermittle: »Das Gefühl, dass ich mich immer weiter entwickeln kann.« Beziehungsweise: »Ich habe nicht das Gefühl: Das mache ich jetzt 30 Jahre lang immer gleich.«
Parade-Disziplin: Kurzfilme
Karla Stindt konzentriert sich auf »dokumentarische Projekte«, wie sie sagt. Darauf liegt der Fokus des Medienprojektes ohnehin – auch wenn es sehr wohl eine eigene Spielfilm-Redaktion in der Wuppertaler Hofaue gibt und hier gar schon Zombie-Streifen gedreht wurden. Hauptsächlich sind die knapp 20 Akteur*innen jedoch organisiert in einer Politik-Redaktion, einer Umwelt-Redaktion, einer Filmredaktion für Geflüchtete und einer inklusiven Redaktion. Eine Parade-Disziplin des Medienprojekt-Teams sind Kurzfilme – nicht selten für die sozialen Medien – zur gesellschaftspolitischen Aufklärung, etwa zum Thema Rassismus beziehungsweise zur »Black Lives Matter«-Bewegung. Und wenn sich dann Karla Stindt einer dieser Sachen annimmt, dann tut sie das auf ihre Art: Sie lässt sich treiben. »Ich bin zuletzt unter anderem häufiger zum Tagebau nach Garzweiler gefahren, auch außerhalb von Demonstrationen, und habe dann einfach geschaut, was passiert.«
Unmittelbarkeit, Spontaneität – darauf basieren Filme seit jeher. Oder sollten es. Denn an genau diesen Dingen trennt sich die Spreu des Filmes als Kunst vom Weizen des Filmes als Mainstream-Produkt. Beispiel: Dokumentationen im Fernsehen. »Die sind alle sehr formatiert«, sagt Kim Münster. »Wer ›Terra X‹ sehen will, der hat eben bestimmte Vorstellungen und weiß, was er vorgesetzt bekommt. Das ist okay.« Aber ihr fehlt dabei das Besondere. »Mir fehlt die Handschrift des Regisseurs oder der Regisseurin.« Diese Handschrift versucht Kim Münster in ihre Projekte einzubetten. Karla Stindt versucht es ebenfalls, wenn sie derzeit etwa an einer Filmreihe über Verschwörungsideologien, Demokratie und Fake News arbeitet und ein Festival mit Beiträgen zum Thema Feminismus in 2022 plant.
Und auch Sofia Ose versucht das. Sie widmet sich aktuell einem Dokumentarfilm, in dem es um frühe Fehlgeburten geht. Zwar sei dieses Thema kein neues, sagt sie. Aber Sofia Ose ist selbst eine betroffene Frau. Sie hatte eine solche Fehlgeburt Anfang 2020. »Und ich habe mit der Zeit gemerkt: Da sind viele Bilder in mir.« Die müssten raus. Wenngleich sie betont: »Das soll keine Selbsttherapie sein.« Es gehe ihr vielmehr darum, dass sie in ihren Film schlichtweg die eigene Perspektive legen könne. »Und genau daraus ziehen Filme doch ihre individuelle Stärke.« Sofia Oses Credo: »Ich brauche auf jeden Fall einen eigenen Zugang zu einem Thema. Ich kann nicht von außen irgendwo reinrennen und dann dazu irgendetwas machen.«
Was an ihrer Vita bemerkenswert ist: Sofia Ose kam erst spät zum Film. «Es ist nicht so, dass ich das machen wollte, seit ich drei war«, sagt sie. Erst während ihres Studiums der »Visuellen Anthropologie« in Düsseldorf sei es soweit gewesen, habe es mit kleinen Kunst-Videos angefangen. Ansonsten ist sie traditionell eher eine Schreiberin. »Ich habe immer schon viel aufgeschrieben und versucht, daraus etwas zu entwickeln.« Langsam. Nach und nach. Entsprechend brauche sie für Filme meist einen längeren Vorlauf. Gleichwohl ist der Film für Sofia Ose gewissermaßen die ultimative Kunstform: »Nehmen wir das Kino: Wenn man rausgeht, fühlt man sich so, als sei man noch mitten im Film. Diese Empfindung hatte ich nach einem Museumsbesuch noch nie«, sagt sie und lacht. Sofia Ose und die Kamera – das passt schon.
Und es passt auch, dass diese drei Filmemacherinnen in NRW sitzen. »Ich denke, die Dichte an Medien- und Kunststädten hier ist einzigartig«, sagt Sofia Ose, die in Köln lebt. Und Karla Stindt betont: »Es gibt hier aufgrund dieser Dichte viel zu entdecken« – nicht zuletzt Filmfestivals, Filmfirmen oder eben Institutionen wie das Medienprojekt, zu dem alle immer zurückkommen. Irgendwie. »Ich war mal für zehn Monate in Wien«, erinnert sich Karla Stindt an eine Anekdote, die vielsagend ist. qEine tolle Stadt. Und fast alle haben mir prophezeit: Du kommst eh‘ nicht wieder!« Nur Andreas von Hören, Leiter des Medienprojektes in der Heimat, wusste offenbar, was Sache ist. »Er sagte zu mir nur: Melde Dich einfach, wenn Du wieder da bist.« Karla Stindt kam zurück – und meldete sich.