Vielleicht tauschen sie ein paar Küsse zuviel, vielleicht schaut die Ehe von Martha und Paul Sabel einfach zu perfekt aus. Die Lehrerin und der Arzt leben in Köln – alles ist gut: Beruf, Freundeskreis, Sex und Liebe. Er bekommt ein Angebot, nach Marseille zu gehen, wo immer die Sonne scheint, wie Martha sagt. Sie kann den Wechsel auch einrichten; sie räumen die Wohnung aus, er fährt mit dem Auto voraus, sie will in einer Woche folgen. Seltsam nur diese Momente des Stillstands, wenn Paul (Felix Knopp) plötzlich ganz versunken und abwesend ins Leere starrt. Etwas stimmt nicht. »Hast Du Angst?«, fragt Martha. »Ja.« – »Wovor?« – »Weiß nicht.«.
Dann steht die Polizei vor der Tür und teilt Martha mit, dass Paul sich umgebracht hat. Seine Leiche wurde auf einem Parkplatz gefunden: Er hat sich mit Abgasen erstickt. Großartig, wie Sandra Hüller das spielt und Jan Schomburg ihre Reaktion auf die Nachricht inszeniert. Sie sagt dem Untersuchungsbeamten »Da können Sie doch nichts für«, als er ihr sein Bedauern ausdrückt, greift zum Handy, wählt Pauls Nummer und spricht dem Toten auf die Mailbox: »Was machst du denn für Sachen?«. Für das Unfassbare existieren keine Handlungsmuster. Martha wird herausfinden, dass Paul seit Jahren eine Scheinexistenz geführt hat und sie von ihm nichts weiß. Spurlos verschwunden. Auf den Totalzusammenbruch ihres bisherigen Lebens antwortet sie ebenso radikal: mit völliger Leugnung der Realität.
Eine filmische Konstruktion. »Über uns das All« betrachtet in stupend überlegter Genauigkeit – aus nächster Nähe und zugleich mit kühler Distanz – seine Hauptfigur Martha: vom Namen her womöglich eine Anspielung auf Fassbinders Titelheldin in seiner Fallstudie von 1974. Bei Hüller, dieser eigenen, bei scheinbarer Offenheit tief verschlossenen Schauspielerin, sind pathologisches Verhalten und Normalität kein Widerspruch. Ihre Gesichtswechsel sind eine einzige Beunruhigung.
Zu Marthas Trauerarbeit gehört die etwas unwirkliche Zufallsbegegnung mit Alexander Runge (Georg Friedrich), mit der sich Perspektiven verschieben und die Verlustsituation sich unerwartet ändert. Das Auge der Kamera (Marthas Augen repräsentierend) heftet sich zuerst an Alexanders Hinterkopf und folgt ihm in den Hörsaal zu seiner Vorlesung. Kurz darauf nimmt sie ihn, den sie Nino nennt, selbstverständlich mit zu sich und fordert ihn auf, ins Bett zu kommen. Nun erst ermisst man ihre ganze Verstörung. Sie wiederholt die Beziehung zu einem Anderen bis ins Detail des Banalen, des Intimen, der Lebensplanung. Am Ende schauen wir aufs Mittelmeer, hören die Geräusche des Südens – und sehen eine schwangere Martha.
»Über uns das All«, Regie: Jan Schomburg; Darsteller: Sandra Hüller, Georg Friedrich, Felix Knopp; Deutschland 2011, 87 Min.; Start. 15. Sept. 2011