Der Geist spricht nicht mit Hamlet. Er spricht aus ihm. Hamlet im Dialog mit sich selbst. Sein wiederholtes »Du bist hier« wird zur um Bestätigung ringenden Selbstbefragung. Hamlet, die wund laufende Denkmaschine. »Mein Gehirn ist eine Narbe«, sagt er mit Heiner Müller, aus dessen knappen Stückseiten im Schauspielhaus Bochum einiges dem Shakespeare-Text beigefügt wird.
Das Drama schildert die totale existentielle Krise. Keinem ist zu trauen. Keiner traut sich selbst. Alles aus dem Lot, augenfällig auch dadurch, dass Johan Simons zwei Wesen mit offener Identität ins Spiel bringt: »Abgesandte, Totengräber, Clowns«; Kampfgirl (Jing Xiang) die eine, wunderseltsame Kind-Frau (Ann Göbel) und Pop-Prinzessin die andere, die kaum mehr als »Er ist allein« sagt und Phantom- und Spiegelbild jeder weiteren Person sein könnte. Nicht zuletzt das von Ophelia. Die ‚reale’ Ophelia (Gina Haller, eigensinnig, aufsässig, feministisch und ihrem Partner absolut gewachsen) wiederum hält rührende Zwiesprache mit Hamlet und assistiert bei seiner Vaterbeschwörung. Da würgen dann zwei Besessene in einem Exorzismus die Bluttat am König durch dessen Bruder Claudius aus.
Ein Balanceakt zwischen den Figuren
Über das kreideweiße Feld, den Kampfplatz, hat Johannes Schütz eine Balkenkonstruktion gehängt, an der ein matt leuchtender Ballon und auf der Gegenseite ein kupfernes Rechteck in Bewegung sind. Beide Gewichte halten sich wie beim Mobile in der Schwebe. Variable in einem Spiel mit unbekannten Größen, das sind Shakespeares Figuren: Hamlet – ein Balanceakt. Aus dem Hintergrund sirrt oder röhrt, stanzt und klirrt es aufrührerisch.
Als Partitur auch behandelt Sandra Hüller – ganz bei sich und zugleich im reflektierten Selbstverhältnis die Quintessenz der Figur darstellend – den sich durch sie hindurch verjüngenden Text, den sie im Reden zu verfertigen scheint. Sie singt und sagt ihn direkt und gelöst, staunend, sanft und sinnend, verträumt flüsternd, baritonal grollend, im Schaulauf für Dritte, burschikos und kess. Man meint, Hüller bedürfe keinerlei Kraft, es sei kein Aufwand dabei, sie spräche unter freiem Himmel.
»Remember me«, fordert der gemordete Vater vom Sohn. Es ist mehr Bitte einer ruhelosen Seele, als Aufforderung zum Rächen. Hüller lässt nicht einen Moment an geschlechtliche Zuordnung denken. Unerheblich, sich damit zu beschäftigen, ebenso wie mit dem Abhandeln des Finales – Gift, Degen, Sterben. Das erledigt eine Erzählerin (Ann Göbel) in nüchterner Mitteilung. Fünf Tote liegen am Rande. Das ist, was zählt. Was soll uns der Plot! Es gibt Wichtigeres und packender zu gestaltende Situationen.
An der Mutterbrust
Grandios, wie Simons diese sich organisch entwickeln lässt: wenn Hamlet sich an die Mutterbrust (der divahaften Mercy Dorcas Otiero) schmiegt und sich greinend, schmusend in die Aggression steigert. Wenn Hamlet und Laertes (der furiose Dominik Dos-Reis) sich wechselseitig mit der Parole »Fang an« zum Kampf hochputschen; wenn »Die Mausefalle« sich als trillernde Pantomime entbändigt; wenn in der Totengräberszene einige der zahllosen Stahlkugeln von außerhalb des Karrées wie zum Zen-buddhistischen Billard ins Spiel rollen.
Unbefangen, informell, kinderleicht erzählt Simons das Drama, ohne Druck und Drang. Die bekannten Sentenzen hören wir wie zum ersten Mal. »Hamlet« – eine Offenbarung. Zeremoniell ist aufgehoben. Es bleibt das Ritual in der Rahmung einer artifiziellen Installation. Die Inszenierung wagt es, zu tanzen mit Irritation und Widersinn, Spaß und Spott, Narretei und Drolerie, Tod und Verzweiflung. So gewinnt sie Schönheit, Anmut und Befremden, graziöse Wucht, uneindeutige Zeichenhaftigkeit, Tiefe und Klarheit. Fortinbras (Mourade Zeguendi), der anfangs türenschlagend den Bühnenraum verließ, kehrt nach Hamlets Schweigen zurück aufs Schlachtfeld und beklagt die Welt, wie sie sich ihm darbietet. So schließt sich ein Kreis und die zwingend konsequente, beglückende erste Saison von Johan Simons’ Bochumer Intendanz: von Feuchtwangers »Jüdin von Toledo« zu »Hamlet« – in einem Friedhofsbild. Ovationen.
wieder am 26. und 27. September 2020: https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/198/hamlet