Müsse sie nicht Angela Merkel mögen, frage ich Sandra Hüller, oder zumindest verstehen, vorausgesetzt, dass Verständnis zur Sympathie verhilft. Sie schaut erstaunt, animiert bis amüsiert. Will wissen, weshalb. Es ist der kühle Kopf, die analytische Durchsicht und sezierende Unaufgeregtheit der Kanzlerin, die mich an Sandra Hüller erinnert. »Emotionen haben in der Öffentlichkeit nichts zu suchen«, bestätigt sie dann auch. Wer sich etwa mit Yoga beschäftige, wisse, dass Emotionen nicht die Wahrheit seien.
Kontrolle, Disziplin, Beharrlichkeit
Die französische Zeitung Libération betitelte ein Porträt über Sandra Hüller nach der fulminanten Cannes-Premiere von Maren Ades »Toni Erdmann« im Mai mit »Deutsche Qualität« und nannte sie einen »kleinen Soldat von unzweifelhafter Präzision«. Womit schon eine typische Zuschreibung genannt wäre. Nimmt man weitere Eigenschaften, die der Schauspielerin Hüller zugeordnet werden, sammeln sich: Ratio, Kontrolle, Disziplin, Beharrlichkeit, Unnachgiebigkeit, Energie, der ganze zweifelnde Hamlet-Komplex. Selbst wenn das alles stimmen sollte (aber was weiß man schon!), die Wahrheit ist mehr als ihre Einzelteile und vernachlässigt Attribute, die nicht gemeinhin für Deutsch gelten und Sandra Hüller sozusagen von einer Nationalheiligen entfernen: das Leidenschaftliche, Grenzüberschreitende, eigensinnig Komische, Verschmitzte und Legere.
Treffpunkt Potsdam, das Lokal im historischen Zeughaus, das schon zur DDR-Zeit das Filmmuseum beherbergte. Später hat Sandra Hüller – sommerlich luftig gekleidet unter der Schirmkappe – einen Termin in den Studios Babelsberg. Anmutig ruhig, wohlerzogen, sich entschuldigend für kleinste Unterbrechungen, aufmerksam und von lichter Konzentration, sitzt sie einem gegenüber mit geradem Rücken. Ja, sie habe den Eindruck, dass Journalisten im Umgang mit ihr »ein bisschen ratlos« seien. Nicht nur, weil sie die Linie zieht, wie weit es geht. Auch aus Erfahrung, nach 20 Jahren in dem Beruf. Damals, vor mehr als zehn Jahren, nach dem Erfolg von Hans-Christian Schmids »Requiem« und dem Silbernen Bären als Beste Darstellerin war sie Objekt des Interesses: »Die Versiertheit, die mir abverlangt wurde, hatte ich nicht.«
Mut zur Konfrontation
Sandra Hüller schaut einen an. Da ist keine Stelle, die sie nicht sieht. Nicht locker lassend, freundlich herausfordernd, entwaffnend, kehrt sie nahezu das Verhältnis um, indem sie zur Fragerin wird: Mach schon! Bekenne Farbe! Mut zur Konfrontation mit sich! Wenn es nicht despektierlich klänge und unangemessen für eine Frau von Ende Dreißig: Sandra Hüller hat etwas von einer Unschuld vom Lande. Das Prädikat nimmt sie vergnügt zur Kenntnis. Die Ambivalenz von äußerer Erscheinung und innerer Wesensfülle lässt einen nicht los. Sie gibt sich nicht preis, gerade auch, wenn sie aufs Ganze geht. So klar, taufrisch und fast altmodisch sie wirkt, so sehr traut man ihr alles zu. »Unergründlich«, wie sie die Figuren von Kleist nennt (die Nathalie und das Käthchen hat sie gespielt), den sie über alles schätzt. Kleists Grab am Kleinen Wannsee ist ihr den Besuch wert.
»Das ist meine Sache. Ich muss mein Reservoir anzapfen. Wie es sich gefüllt hat und was es enthält, geht keinen was an. Wenn ich da rein greife, muss ich wissen, wo was liegt. Und ich frage mich, kann ich alles benutzen, oder räume ich hier unten besser auf?«
Sandra Hüller
Unergründlich meint, dass »jeder Gedanke denkbar, jede Situation vorstellbar« sei – so soll es sein und sich ereignen auf Leinwand und Bühne, ganz ohne Wirkungsmechanik. Diese Einstellung und Anschauung habe sie indes schon vor ihrem beruflichen Spielen gepflegt: in »meiner Fantasie und Empathie«, dem Geheimort des Kindseins. Um sie dann ins Professionelle herüberzuholen. Es gebe Anweisungen und Anforderungen bei Rollen, aber vieles sei nicht kommunizierbar. »Das ist meine Sache. Ich muss mein Reservoir anzapfen. Wie es sich gefüllt hat und was es enthält, geht keinen was an. Wenn ich da rein greife, muss ich wissen, wo was liegt. Und ich frage mich, kann ich alles benutzen, oder räume ich hier unten besser auf?«
Manchmal mag Hüllers innerer Speicher ein Kummerkasten sein. Es will scheinen, als sei ihre offen liegende Verletzlichkeit umhüllt von einer unsichtbaren Schutzschicht. Wie wahrt man Kontrolle, behält die Eigenregie, wiegt das Verhältnis von Einsatz und Abstand ab? Wie umgehen mit dem »ganzen ungesicherten Gut«? Hüller: »Ich kann Ihnen versichern, mein Reservoir ist kein acht Grad kalter See.«
Eine Kladde im bunten Kinder-Rucksack
Ein Gespräch als Pakt auf Gegenseitigkeit ist etwas anderes als ein Interview. Irgendwann an diesem Mittag sagt sie mit halbem Erschrecken über womöglich zu viel Vertraulichkeit: »Da habe ich Ihnen etwas Intimes erzählt.« Das Bekenntnis verpflichtet zur Verschwiegenheit. Diskretion ist, was Sandra Hüller unausgesprochen einfordert. Und erhält. Die Scheu, preiszugeben, was in einem Moment der Nähe offenbar wurde, bleibt. Weil man ahnt, dass ihr Dinge nahe gehen und ein Motiv zum Klingen gebracht wurde. Einmal zieht sie aus ihrem bunten Kinder-Rucksack eine Kladde hervor und notiert sich ein Zitat, das gerade fiel.
Als sie vom physikalischen Begriff Entropie als dem Maß der Unordnung gehört habe und welchen Energiebedarf es brauche, um das Chaos zu bändigen, habe sie das »kolossal beruhigt: zu wissen, dass ich nicht schuld bin an der Unordnung, sondern dies der natürliche Zustand ist«. Jeder hat ein Lebensthema, ein Muster, das sich wiederholt. Sandra Hüller ist ein Mensch, der sich Verantwortung zumutet: »Wenn ich spüre, gebeten zu sein, den Zustand eines Anderen zu verbessern …« Doch müssen wir akzeptieren, dass die eigene Macht und Möglichkeit begrenzt ist. Sie, die ein bisschen streng mit sich scheint, lerne, »mit sich einverstanden zu sein«.
»Jede Blume muss durch den Dreck wachsen. Ines ist mutig und frech. Ich liebe die wirklich sehr.«
Sandra Hüller
Erlösung ist ein wiederkehrendes Motiv ihrer Figuren und Rollen der Isolation, Vereinzelung und Verstörung – im Kino und im Theater, von Goethes Gretchen bis Tennessee Williams’ Katze Maggie, bei René Pollesch, Johan Simons, Lukas Bärfuss. Sie spricht von ihrer »Bereitschaft«, solche sie interessierenden Themen im »Experiment« mit den Rollen zu erkennen. Das gilt nicht erst für die toughe, beherrschte, sich zum Erfolg durchkämpfende und den Preis dafür zahlende Unternehmensberaterin Ines in »Toni Erdmann«. Auf die lässt sie nichts kommen: »Jede Blume muss durch den Dreck wachsen. Ines ist mutig und frech. Ich liebe die wirklich sehr.«
Erlösungsbedürftig war in Schmids »Requiem« die brave, aber notgedrungen aufsässige Tochter aus der schwäbischen Provinz in den 1950er Jahren. Die sich selbst nicht Genüge tun, sich selbst nicht gnädig sein könnende, an Epilepsie leidende Studentin wird an Leib und Seele durch einen Exorzismus der katholischen Kirche zu Tode kommen.
Wie Figuren von Edward Hopper
Noch ein Beispiel. Eine junge Frau mietet eine Wohnung in Brüssel. Auf dem Rand des Bettes sitzt sie wie ein Mensch in den Zimmern des Edward Hopper. Dann sieht man sie in einem anderen Haus als Mutter und Ehefrau, die mit ihrem Mann leidenschaftlich schläft. Charlotte führt ein Doppelleben. Die Berliner Ärztin und Wissenschaftlerin holt sich Männer ins Apartment, um mit ihnen Sex zu haben. Sie findet sie als Patienten in ihrem Institut: alte, dicke, hässliche Männer. Charlotte ist eine Schwester von Buñuels »Belle de Jour«. Hüller verwandelt sich nicht gerade in die marmorne Deneuve, aber man kann an Polanskis »Ekel«, an Chabrol und Haneke, auch an Agnès Varda und Chantal Akerman denken. Klinisch abstrahierend protokolliert die Niederländerin Nanouk Leopold den »Fall« in ihrem irritierenden Film »Brownian Movement« (Brownsche Bewegung), abgeleitet vom physikalischen Vorgang der permanenten Zufallsbewegung von Teilchen in Flüssigkeit und Gasen. Wie ein Molekül treibt es Charlotte zu ihrem Triebverhalten. Nicht nachvollziehbar, nicht zu begründen. Staunenswert, wie Sandra Hüller das spielt.
Im Chor der ungefähr Gleichaltrigen – Nina Hoss, Julia Jentsch, Birgit Minichmayr, Katharina Schüttler, Johanna Wokalek, die wie sie parallel auf der Bühne und im Film spielen – wirkt sie am normalsten. Und unergründlichsten. Eine deutsche Isabelle Huppert in der Entwicklung von der »Spitzenklöpplerin« über die Frau in Bachmanns »Malina« zu Jelineks »Klavierspielerin« und einer von Ozons »Acht Frauen«. Rätselvoll, dabei unbekümmert wirkend. Hüller erzählt, dass sie vor kurzem in Paris die Kollegin Huppert für das Magazin »Interview« befragen durfte.
Schönheits-Anbeterin
Zweimal wurde Sandra Hüller Schauspielerin des Jahres: 2003 in der Kategorie Nachwuchs für die behinderte, im Alltagsvollzug langsame Dora (»Die sexuellen Neurosen unserer Eltern«). Dann 2013 gewissermaßen ausgereift für »Doppelgeschöpf, weibl.«. Da ist sie – in Elfriede Jelineks München-Stück »Die Straße. Die Stadt. Der Überfall« an den Kammerspielen – die dem Konsum nicht gewachsene, hochhackige Identitäts-Erbettlerin durch Fashion und Shoppen, tänzelnde Ich-Versprudlerin, Schönheits-Anbeterin und -Verächterin, Selbstbild-Produzentin und Bilder-Opfer.
Ihre Berufswahl erklärt sie damit, kein anderes Talent besessen zu haben. Als Kind sei sie nicht besonders sportlich gewesen, viel allein, empfindlich; sie habe auch viel ferngesehen, genau geguckt und abgeglichen. Das Kind Sandra und seine Aufnahmelust. Heute weiß sie, wie wichtig es ist, die Reize zu regulieren, »auf- und zumachen zu können. Zu versuchen, die Sensoren auszuschalten«. Sie machte mit in einem Theater-Klub, 1995 wurden sie zum Berliner Jugendtheatertreffen eingeladen. Da war sie 17. Bald studierte sie an der Ernst-Busch-Schule, wofür sie sich schon vor dem Abitur beworben hatte. Erstes Engagement: Jena. Dann Leipzig, Basel, später Berlin, schließlich München. Jetzt lebt sie mit ihrer Familie wieder in Leipzig.
»Man kann auf der Bühne alles machen, was man will.«
Johan Simons zu Sandra Hüller
Das Theater ist für sie »begrenzter, überschaubarer« als der Film, wo es die Rahmung so nicht gebe und die Anspannung höher sei. »Man kann auf der Bühne alles machen, was man will«, hat Johan Simons ihr versichert, als sie zu ihm an die Kammerspiele kam. Da muss es nicht mehr um Psychologie und nicht ums Spielen gehen, nur um eine bestimmte Art von Anwesenheit. Man füllt gemeinsam einen Raum. Fluide Atmosphäre. Hüller schätzt die Konzentration der Probe, das Gefühl der Gruppe, den Ort, in dem man nicht funktionieren zu müssen hat. Sie kenne neben Simons »keinen Regisseur, der so viel zulässt und aus einem herauswachsen lässt, der nicht manipuliert, nicht mit Druck arbeitet, der bereit ist, auch eine eigene Idee und Vorstellung aufzugeben«.
Diesen Vorgang konnte man 2015 während der Ruhrtriennale beobachten bei Pasolinis »Accattone« in der Halle Lohberg, der »Wüste mit Dach«, wie Hüller sagte. Um 1950 schreibt Pasolini in sein Tagebuch: »Erwachsen? – Nie, niemals, wie das Leben, das nicht reift – immer unfertig bleibt. Von einem herrlichen Tag zum anderen, kann ich nicht anders als treu festhalten an der wunderbaren Gleichförmigkeit des Geheimnisses.« Bei Simons sahen wir Geheimnisträger: Steven Scharf als Accattone, ein hochgespannter Tänzer des Todes und Choreograf seiner nichtsnutzig »freien«, Arbeitsmoral anarchisch negierenden Existenz, schlängelte sich in fließender Bewegung um seine Maddalena (Sandra Hüller), die zusammen mit ihrem Gewalttäter (Benny Claessens) einen lang währenden Pas de deux der Küsse und Bisse vollführte, um zu umspielen, wie sie als Accattones Hure von einer Bande zusammengeschlagen wird und so das Unglück beginnt. Die Konstellation Simons/Hüller & Co. wird sich in dieser Festival-Saison fortsetzen in der Camus-Überschreibung und Gegensetzung »Die Fremden« nach Kamel Daoud.
Eine Biografie mit dem »Schock« der Wende
Sie »verdinge« sich, charakterisiert Hüller ihre Haltung zum Beruf, »den ich mindestens so oft hasse, wie ich denke, dass er toll ist«. »Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen«, heißt es in der Lutherbibel. Hüller kommt aus Thüringen, im weiteren Umkreis liegen Eisleben und Wittenberg. Eine Biografie mit dem »Schock« des Umbruchs und der Wende für die Elfjährige und dem Gefühl aufgekündigter Gewissheiten. Das erschüttert Vertrauen. Da entwickelt man Vorsicht. Konfessionslos aufgewachsen, ist ihr protestantisches Leistungsethos dennoch vertraut. So dass sie auch lernen musste, »Tage zu erleben, an denen ich gar nichts geleistet habe und die auch zu genießen«. Ob sie diese Genussfreude der »Toni Erdmann«-Ines heimlich einflüstern konnte?