Zwei Kandidaten für den Academy Award, kurz und cosy Oscar genannt, sind der französische »Anatomie eines Falls« und der britische »The Zone of Interest«. In beiden Ausnahmefilmen spielt Sandra Hüller die Hauptrolle und ist selbst auch nominiert als Beste Schauspielerin für ihre Rolle in »Anatomie eines Falls«, während ihr Düsseldorfer Kollege Christian Friedel der Partner Hüllers in »The Zone of Interest« ist. Sie stellen das Ehepaar Rudolf und Hedwig Höss dar, Wohnort: die Villa des Kommandanten von Auschwitz. Eine Hommage aus gegebenem Anlass, unabhängig vom Votum in Hollywood.
Sie lässt einen immer noch nicht los. Nicht nur ihre Augen sind es, es ist das sanft Unerschrockene, nicht zu Entschlüsselnde der Person, deren Substanz einem nicht ganz geheuer, indes sie an der Oberfläche so porentiefsauber zu sein scheint. Sandra Hüller ist eine Sphinx, die kein Aufhebens macht von ihrer mythischen Erscheinung. Ihr Glanz gleicht dem matten Schimmer einer Perle, nicht dem lauten Funkeln von Diamanten. In jeder ihrer Figuren zeigt sich Beherrschtheit durch Intelligenz und die Befähigung, den Körper als Präzisionsinstrument einzusetzen.
2016 hatte der Autor Sandra Hüller in Potsdam für ein Gesprächsporträt getroffen, um anschließend in dem Text unter anderem zu schreiben: »Wenn es nicht despektierlich klänge und unangemessen für eine Frau von Ende 30: Sandra Hüller hat etwas von einer Unschuld vom Lande. Das Prädikat nimmt sie vergnügt zur Kenntnis. Die Ambivalenz von äußerer Erscheinung und innerer Wesensfülle lässt einen nicht los. Sie gibt sich nicht preis, gerade auch, wenn sie aufs Ganze geht. So klar, taufrisch und fast altmodisch sie wirkt, so sehr traut man ihr alles zu.« Figuren von Kleist nennt sie »unergründlich« (die Nathalie, Käthchen, Penthesilea hat sie gespielt), den sie über alles schätzt. Kleists Grab am Kleinen Wannsee ist ihr den Besuch wert. Unergründlich meint, dass »jeder Gedanke denkbar, jede Situation vorstellbar« sei – so soll es sein und sich ereignen auf Leinwand und Bühne, ganz ohne Wirkungsmechanik. Diese Einstellung und Anschauung habe sie indes schon vor ihrem beruflichen Spielen gepflegt: in »meiner Fantasie und Empathie«, dem Geheimort des Kindseins. Um es dann ins Professionelle herüberzuholen. Es gebe Anweisungen und Anforderungen bei Rollen, aber vieles sei nicht kommunizierbar. »Das ist meine Sache. Ich muss mein Reservoir anzapfen. Wie es sich gefüllt hat und was es enthält, geht keinen etwas an. Wenn ich da rein greife, muss ich wissen, wo was liegt. Und ich frage mich, kann ich alles benutzen, oder räume ich hier unten besser auf?«
Die im thüringischen Suhl Geborene ist auf eine Weise deutsch, ohne dass man sich je dafür genieren zu müssen glaubt. Vielleicht liegt es an dem feinen spöttischen Strich, der sich ihrer Ernsthaftigkeit einzeichnet. Es macht keinen Unterschied, was sie spielt und wen sie darstellt: Kleists in hellen Wahn geratende Penthesilea, Shakespeares Viola oder den besonnenen Hamlet, eine Studentin in den 70er Jahren in Südwestdeutschland, deren katholische Eltern ihr die Dämonen austreiben wollen (»Requiem«), eine Ärztin in Brüssel, die sich ihre Patienten für Sexabenteuer ausguckt (»Brownian Movement«) und als pathologische Fallstudie Beunruhigung auslöst. Eine ostdeutsche Großmarktarbeiterin (»In den Gängen«), klar, Toni Erdmann – und eben die Ehefrau des KZ-Kommandanten Höss (»The Zone of Interest« von Jonathan Glazer) und die unter dem Verdacht stehende Schriftstellerin Sandra Voyter, ihren Mann getötet zu haben (»Anatomie eines Falls« von Justine Triet). Es ist kein Zufall, dass der Vorname der Schauspielerin auch der ihrer Rolle ist.
Vom Düsseldorfer Schauspielhaus nach Hollywood: Christian Friedel
Auch der fast gleichaltrige Christian Friedel hat eine ostdeutsche Biografie, geboren 1979 in Magdeburg. Die Erfahrung des Bruchs in der Lebensgeschichte und die Zumutungen grundstürzender Veränderung, so darf man vielleicht behaupten, legten Spuren, auch wenn sie sich verwischen. Friedel ist ein Schauspieler, der uns die Arbeit der Verwandlung, das totale Sich-Zusammennehmen für eine Rolle ahnen lässt, um sie dann in der Darstellung zum Verschwinden zu bringen. Beispiele sind sein Dorfschullehrer mit dem schlichten, aufrechten Gemüt in Michael Hanekes »Das weiße Band« und der Hitler-Attentäter Georg Elser, der aus dem Unscheinbaren sichtbar werdende Polizeifotograf Gräf in »Babylon, Berlin« sowie im Düsseldorfer Schauspielhaus sein »Dorian« Gray in dem von Bob Wilson inszenierten Solo, frei nach Oscar Wilde.
Aus dem Straßenkater Dorian erwächst eine gestriegelte Artistocat, dessen Epiphanie der durchaus gar nicht so geschmeidige Friedel gewissermaßen in Selbstüberwindung ‚herstellt’. »Was im Gefühl zuerst da ist, kommt in der Form zuletzt.«, heißt es in dem Text. Ich und Ich und Ich und noch einige mehr: Er ist Zierpuppe, Egoshooter, Buffo und Weißclown, Professor für Ästhetik und Propagandist der Antithese, naiv und raffiniert, kaputt und splendid, Faust und Mephisto in einer Person – der talentierte Mister Gray und der nicht weniger talentierte Herr Friedel.
Auch ihre Musikalität verbindet beide. Sandra Hüller kann und will singen, zuletzt etwa im Bochumer Schauspielhaus in »Der Würgengel« von Johan Simons. Friedel hat mit seiner Band Woods of Birnam, seit sie sich vor mehr als zehn Jahren in Dresden trafen, mehrere Studioalben veröffentlicht und mit ihnen gemeinsam Inszenierungen realisiert, darunter das von dem Schauspieler, Sänger und Komponisten auch als Regisseur verantwortete Projekt »Searching for William« (Shakespeare).
Es hat seinen eigenen Sinn, dass die Absolventin der ehemals ostdeutschen Ernst-Busch-Hochschule in Berlin und der an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule Ausgebildete, dass Hüller und Friedel in Hollywood mit einem Film zur Wahl stehen, der von seinem Thema deutscher nicht sein kann, dem mit nichts vergleichbaren, ungeheuren Menschheitsverbrechen Auschwitz, selbst wenn es der Film eines Engländers nach der Romanvorlage eines englischen Autors ist. Nach Volker Schlöndorffs / Günter Grass’ »Blechtrommel«, nach István Szabós / Klaus Manns »Mephisto«, nach »Das Leben der Anderen« – also Filmen über die NS-Diktatur und den DDR-Unrechtsstaat – ist »The Zone of Interest« mit Hüller und Friedel wiederum ein deutscher Film: kein Film aus, aber ein Film über Deutschland.
Am 10. März kennen wir die Gewinner*innen. So oder so, Sandra Hüller und Christian Friedel bleiben für uns erste Wahl.
Am 16. März liest Sandra Hüller auf der Lit.Cologne in der Stadthalle Köln-Mülheim
aus Texten von Wolfgang Herrndorf: litcologne.de
Am 26. März spielt Hüller »Hamlet« am Schauspielhaus Bochum:
Christian Friedel ist am 18. März in einer »Hamlet«-Erzählung am Düsseldorfer
Schauspielhaus zu erleben: dhaus.de