Einmal sagt der Vater zu ihr, nachdem sie sich am Hotelpool über eine zu lasche Massage beschwert, Champagner und Clubsandwiches auf Kosten des Hauses bestellt und den Kellner kalt abserviert hat: »Bist Du eigentlich ein Mensch?«. Einmal, nach einer Präsentation, zeichnet ihr vorgesetzter Kollege sie mit dem Satz aus: »Du bist ein Tier!«. In Maren Ades Film geht es um den Versuch einer Lebensrettung, um Menschwerdung, einen Heilungsprozess, eine Schmerz-Therapie nach seltsamer Methode. Den Humor muss man schon mögen, den Vater Erdmann auf seine Tochter Ines und überhaupt im Umgang mit der Welt und wie sie ist, anwendet. Wenn man mal kapiert hat, dass das nur ab und an zum Schreien komisch, aber meist überhaupt nicht zum Lachen ist, und man die befremdliche Berichterstattung aus Cannes, zuzuschreiben dem Symptom Festival-Euphorisierung, beiseite lässt, wird einen »Toni Erdmann« nicht gleichgültig lassen.
Winfried Erdmann (Peter Simonischek), geschiedener älterer Mann und halb gescheiterte Existenz, der sich um seine invalide Mutter kümmert und seinen bejahrten Hund Willi sterben sieht, hat den Kontakt zu Ines verloren. So wie die international tätige Unternehmensberaterin selbst ohnehin zu jedermann, sogar zu ihrem Lover (und bequemerweise untergebenen Mitarbeiter), den sie vor ihren Augen gezielt auf ein Petit four onanieren lässt und ihm dabei abschätzig schnöde zuschaut. Dass die doch eigentlich einfühlsam sanfte Sandra Hüller das spielt, macht die Psychopathografie der Ines in ihrer tüchtigen, effizient toughen, rationalen, aber leicht angespannt verzweifelten, unter Druck stehenden, sich selbst disziplinierenden Natur nur umso krasser.
Erdmann redet scherzhaft sogar davon, eine Ersatz-Tochter angeschafft zu haben, finanziert von der realen Tochter. Weil sich mit Geld sowieso alles regeln lässt. Er hat sich seinen Bruder »Toni« erfunden, ähnlich wie Brechts guter Mensch von Sezuan sich einen Vetter ausdenkt. Der eine kann tun, was Schicklichkeit dem anderen untersagt. Sich daneben benehmen, verrückt spielen, auf makabre Weise komische Figur und sehr penetrant sein. Eine Art Till Eulenspiegel im Zeitalter des Hyper-Kapitalismus und seiner kalten Rauschzustände. Toni Erdmann kann Ines zeigen, wie ihr Leben sie sterilisiert. Dafür setzt sich der Vater eine Zottelperücke auf, schiebt sich falsche Zähne mit Überbiss in den Mund, trägt furchtbare Klamotten und ein maliziöses Pokerface, sieht aus wie der Horror-Darsteller im Loriot-Sketch und lässt die unglaublichsten Dinger los. Vater und Tochter bugsieren und nötigen sich mit verquälter Freude wechselseitig in peinigende, bloßstellende Situationen, die wiederum etwas Befreiendes bewirken.
Er reist ihr nach Bukarest nach, wo Ines für längere Zeit ein Outsourcing-Projekt zu betreuen und sich zwischen Businessmen (darunter der wie immer wunderbare Michael Wittenborn) zu behaupten hat, und beweist dabei Stalker-Qualitäten. Rumäniens Hauptstadt in ihrer sozialistischen Staats-Architektur und der neoliberalen Potemkin’schen Fassadenwelt, in die mal ein Baracken-Fleck sticht, ist der ideale Schauplatz für die Meetings, Präsentationen, Empfänge, Partys, Clubbesuche.
Die hochsymbolischen Szenen und Aktionen (er kettet sich mit Handschellen an Ines, sie schmettert bei wildfremden rumänischen Leuten einen Whitney-Houston-Song, beim Geburtstags-Brunch in ihrer Wohnung machen sich alle nackt), die Maren Ade entworfen hat und in ernüchternder Sachlichkeit zur Ansicht bringt, sind Berliner Schule im Stil des frühen Fassbinder. Um noch einmal Woody Allens kuriose Definition anzuwenden: »Wenn es sich biegt, ist es komisch, wenn es bricht, ist es nicht komisch«: »Toni Erdmann« ist biegsam genug, um nicht zu brechen.
»Toni Erdmann«; Regie: Maren Ade; D 2016; 162 Min.; Start: 14. Juli 2016.