»L’Apostato – Der Abtrünnige«. So lautet die erste Geschichte von Martin Eden, die veröffentlicht wird. Der Titel trifft auf mehr zu als das Geschriebene, es benennt auch den Schreibenden. Diese Frage beschäftigt Jack London in seinem Roman »Martin Eden«, den er vor etwas mehr als 100 Jahren verfasst hat. Wird Eden sich selbst abtrünnig, kommt er sich abhanden, seiner Berufung, den Menschen um ihn her, seinen Idealen? »Das Feuer, das aus ihm loderte, wärmte nicht«, heißt es in dem Roman. Ein Künstler-Schicksal, das aus der Kälte enthaltenden Distanz heraus produktiv ist. Seine Fantasie aber ist das flackernde, glühende unstete Element in ihm.
Martin Eden fiebert buchstäblich nichts so sehr entgegen wie dem Erfolg, der Anerkennung, der sozialen Akzeptanz. Ein Seemann aus proletarischer Familie: unwahrscheinlich, dass ihm Wege offen stehen, die Worte zufallen, er der Sprache mächtig wird, ihm die gesellschaftlichen Codes geläufig sind. So spült es ihn an Land und dann doch ins begüterte großbürgerliche Haus der Orsini, nachdem er dem jungen Arturo Orsini zu Hilfe gekommen war.
Bei Jack London spielt die Geschichte an der amerikanischen Westküste, in der sehr eigenständigen Adaption von Pietro Marcello in Neapel. Zugleich zieht der Regisseur, dessen Film auf der Venedig-Biennale 2019 lief, mehrfach ausgezeichnet wurde und seither auf seinen Start wartete, den Vorhang auf für die offen gehaltene, zeitlich nicht genau eingegrenzte Szenerie des halben 20. Jahrhunderts mit seinen Brüchen und Klassenverhältnissen. Die Geschichte wächst aus dem Historischen und reicht an die Gegenwart heran. Ein verdichtetes Panorama, wie es Bertolucci in »1900« entworfen hat. Nicht zu Unrecht hat die FAS eine Verbindung zwischen Marcello und Pasolini hergestellt. Auch dieser, der Heilige und Märtyrer unter Italiens Filmemachern und Intellektuellen, war ein Abtrünniger: des Bürgertums, der katholischen Kirche, eines dogmatischen Kommunismus, überhaupt aller Festlegungen. Der Gesellschaftstheoretiker Pasolini erfand sich sein mythisches Subproletariat.
Filmgeschichte als Material
Martin Eden, den Luca Marinelli mit der verhaltenen Intensität des jungen Robert de Niro spielt, sucht den »Mörtel der Sprache« für sein Schreiben. Welche Metapher nehmen wir für das, was die Bilder zusammenhält und ihnen Form gibt? Denn Bilder sehen wir in diesem Film über einen, der Schriftsteller werden will, zuhauf. Große Bilder. Und große Vor-Bilder. Bigger than life. Für Marcello ist das Arsenal der Filmgeschichte Material, das er erkundet und kinemathographisch ausdekliniert: kolorierte Stummfilmszenen, dokumentarische Wochenschau-Aufnahmen in Super-Acht und 16 mm, der Aufbruch des Neorealismus und auch die laute Massenware aus Cinecittà. So entsteht ein – visuell wie akustisch – assoziatives Spektrum aus dem Geist der Montage, das Stilmittel der Epochen aufnimmt und mit ihnen jongliert.
Über ihren Bruder lernt Martin Elena Orsini (Jessica Cressy) kennen. Wie ein Minnesänger, der sich für seine Dame zu bewähren hat, geht er fort aufs Land und nimmt Wohnung bei der Familie von Maria (Carmen Pommella), die in die Tradition der großen Frauen- und Mutterfiguren des italienischen Kinos gehört, ob gespielt von Anna Magnani oder inszeniert von Visconti und Fellini.
Um Elena für sich zu gewinnen, muss er sich verwandeln und veredeln: die Grammatik der Gefühle lernen, was hier buchstäblich zu verstehen ist. Martin lernt, sich schreibend auszudrücken. Was er schreibt und womit er populär wird, bleibt im Vagen und ob der revolutionäre Gestus nicht vielleicht rot angestrichene Attitüde ist. Martin erfindet sich und verliert sich. Thomas Mann sprach von der »elbischen Gesinnungslosigkeit« des Künstlers. Er meinte es nicht abschätzig, sondern schilderte einen Befund im außermoralischen Sinne. Martin Eden verrät seine anarchistische und sozialistische Genossenschaft, während Mussolinis Faschismus die Fahnen schwingt, Bücher verbrennt, den freien Geist verfolgt und den Krieg innen wie außen vorbereitet. Martin Eden ist sein eigenes Projekt, würde es heute heißen, und darin unser Zeitgenosse, darin auch dem Scheitern anheim gegeben. So stellt ihn uns Pietro Marcello vor und seziert ihn mit emphatischer Objektivität.
»Martin Eden«, Regie: Pietro Marcello, Italien / Frankreich / Deutschland 2019, 129 Min., Start: 26. August