Ein Mann, ein Frauenkörper, ein Stift auf nackter Haut, der sie beschreibt wie für ein Text-Tattoo. Liebe, Lust, Literatur – das ist der Dreiklang des Dichters Thomas Brasch. Es fehlt ein ‚D’: das D für Deutschland, das ihm ebenfalls unauslöschlich eintätowiert ist. Ein konkreter Ort und ein Nirgend-Ort, gleich ob Ost oder West. »Aber bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.«
Der 1962 in Ost-Berlin geborene Andreas Kleinert hat einen vitalen und elegischen, Dokumentarszenen bravourös einfügenden und überhaupt brillant montierten Zweieinhalbstunden-Film über Thomas Brasch, den anderen Preußischen Ikarus, gedreht: in Schwarzweiß. Anders wäre es nicht denkbar gewesen, nicht nur deshalb, weil Brasch selbst als Regisseur etwa in »Engel aus Eisen« dieses Ur-Material bevorzugt hat. Die Lebenskapitel gliedern sich nach Gedichtzeilen Braschs, die oft hinter ihren lyrischen Gedankenlauf ein ‚Aber’ stellen.
Erste Station 1955: Der zehnjährige Thomas wird von seinem Vater Horst (Jörg Schüttauf), einem hohen DDR-Funktionär, der es bis zur Position des stellvertretenden Kulturministers bringt, in die Kadettenanstalt gebracht, wo am Aufbau des wehrhaften Sozialismus gearbeitet wird und die Zöglinge geschunden werden und auch sich untereinander schinden, wie Thomas sieht, als einer seiner kasernierten Kameraden in seiner Not Glasscherben schluckt, sich mit Benzin übergießt und anzündet. Für Thomas ist die Trennung von zuhause und von seiner Mutter Gerda (Anja Schneider), der aus Wien emigrierten Jüdin, unheilbarer Schmerz. Die Hand des Kindes, die Kleinert isoliert fotografiert, erinnert an die des Jungen aus Ingmar Bergmans »Persona«, wenn der suchend nach dem Mutterbild tastet.
Doch die Familie ist kein Idyll – der Vater wird den rebellischen Sohn später dem Staatsapparat ausliefern und in Haft schicken. Aber die erkaltete Welt draußen ist schlimmer. Thomas rettet sich in die »Übertreibung als dem Treibstoff der Fantasie« und in Träume, schöne und böse. Auch noch als erwachsenes Kind im Mann, der einen imaginären Doppelmord auf Verlangen an zwei vom Leben gequälten jungen Frauen – für sich und für uns Zuschauer ‚real’ – begeht und beide erschießt: Romanstoff.
Die Haare länger, die Nächte kürzer
Ein Zeitsprung ins Jahr 1966 zeigt den Studenten an der Hochschule, seine Unbotmäßigkeit, den scharfen Spott, die Trauer und Wut über die restriktive Gesellschaft im SED-System: über das, was nicht ist und was sein könnte. Nach ständigen Disputen zieht er fort aus dem elterlichen Plattenbau in eine Hinterhauswohnung, die Haare werden länger, die Nächte kürzer und die Sätze auf Papier immer besser. Abschied von gestern, heute und morgen hinter der Mauer. Berliner Bohème, ostdeutscher Kulturadel, ausgelassen, übermütig, zornig entflammt und wieder und wieder auflaufend am Beton der Macht. Als der Prager Frühling zum blutigen Winter wird, organisiert Brasch den Widerstand mit und landet im ‚Bau’ und auf Bewährung in der Produktion als Fräser, wo er »Dreck, Suff, Verrat wie bei Gorki« erlebt.
Brasch ist ein Wanderer in der preußischen Wüste, einem rüden Land, das eine drastische Sprache erfordert und doch auch zärtliches Gefühl erweckt. Die Enge, der Druck, das Ungenügen »hat ihm sein Lächeln ausgelacht«. Er bekommt ein Engagement am Berliner Ensemble der Helene Weigel (herrliche Szenen in der Theater-Kantine). Seine Bücher werden nicht gedruckt, seine Stücke nicht aufgeführt – außer im Westen. Die Stasi steht unauffällig auffällig vor dem Haus. 1976 nach der Biermann-Petition geht er rüber – »unter der festen Wolke ein Leck« – mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach (Jella Haase), der er sein Stück »Lovely Rita« auf den Leib schrieb.
Flug in den Himmel über Berlin
Brasch dichtet, grübelt, filmt, ist berühmt, bleibt beherzt und nicht konform bis zu seinem Tod 2001. »Vor den Vätern sterben die Söhne.« Der Westen, nicht golden, aber glitzernd schon – Partys, Koks, Cannes, eine Arbeitswohnung in Manhattan, so verlockend, dass er ‚Nein’ sagt. 1981 dreht er »Engel aus Eisen« über die Gladow-Bande im Nachkriegs-Berlin – bei Kleinert lebt er im Kopf den blutigen Shutdown wirklich vor. Es ist der frühere, härtere, wahrhaftigere Gegenfilm zum ebenfalls schwarz-weißen Wenders-Berlin-Film.
Dann der Wendepunkt 1989, Thomas Brasch betrachtet in der Pathologie seinen toten Vater. In der letzten Szene, als wäre er Becketts Krapp, spielt Peter Kremer den 56-jährigen Brasch, wieder zuhause am Schiffbauerdamm. In einer schwarzen Limousine fährt er zu seinem Flugzeug (als Zitat aus »Engel aus Eisen«) und fliegt davon in den Himmel über Berlin.
Thomas Brasch, charismatisch wie Andreas Baader, begabt wie Fassbinder, ein Erotiker wie Brecht, attraktiv wie ein Rockstar: Albrecht Schuch, 1985 in Jena geboren, liefert die ganz große Performance mit einer seltenen Präsenz, wie der junge Götz George sie besaß. So viel Ostdeutschland war nicht oft im deutschen Kino nach der Wende – der Westen soll dafür Danke sagen.
»Lieber Thomas«, Regie: Andreas Kleinert, D 2021, 150 Min., Start. 11. November