Ist dieser Junge nicht auch ein Parzival, der unvorbereitet auf die feindselige Welt, wie sie ist, in ihrem Schrecken, ihrer Grausamkeit und Mordlust gerät?
Es ist Krieg und der lange namenlos Bleibende ein jüdisches Kind. Eine Moritat erzählt Jerzy Kosinski, wie Grimmelshausens »Simplicius Simplicissimus« eine ist, die zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges spielt. Hier ist es die Endphase des Zweiten Weltkriegs und der Schauplatz das verwüstete, nicht genauer lokalisierbare, sprachlich ebenso wenig eindeutig zuzuordnende Osteuropa, den Kosinski mit seinem Buch aus dem Abstand von zwei Jahrzehnten zu bannen unternimmt, als könne das gesammelte Grauen eine reinigende Kraft hervorbringen.
Seine Eltern hatten den Zehnjährigen (Petr Kotlár) vor ihrer Deportation bei einer Bäuerin gelassen, nach deren Tod er auf sich gestellt ist – trotz seiner Unschuld erinnert er von fern an die Zwillingsbrüder in Ágota Kristófs »Das große Heft«, das 20 Jahre nach »The Painted Bird« erschien. Unterwegs begegnen ihm die unterschiedlichsten Menschen. Er zieht übers Land, von Hof zu Dorf, findet hier Unterschlupf, wird dort vertrieben. Wenn er am Ende seinen Vater wiedertrifft, ist Joska ein Anderer geworden: ein Gezeichneter.
Der tschechische Regisseur Václav Marhoul wählt die größtmögliche Entfernung von »The Painted Bird«, um die größtmögliche Nähe zur Vorlage herzustellen. Er schafft über fast drei Stunden einen makellosen Bildzauber in Schwarzweiß, gefilmt im opulenten Format 35-mm-Cinemascope, das gewissermaßen den Vorhang aufreißt vor der Menschheitskatastrophe, die er in eine Vielzahl Kapitel gliedert, die die Namen der Personen tragen, die dem Kind begegnen.
Die wenigsten wollen ihm Gutes, ob Nazi oder Antisemit, Soldat, Bauer oder Priester, ein Missbrauchstäter oder ein ihn die Liebe lehrendes älteres Mädchen.
Einmal etwa hetzt ihn eine Gruppe beinahe Gleichaltriger, er flüchtet, sein Frettchen an sich gepresst, und versucht, den Verfolgern zu entkommen, bis sie ihn sich greifen, niederschlagen und das Tierchen mit Benzin anzünden.
Auch die Elementarkräfte der Natur sind ihm nicht wohlgesonnen. Die – besonders akustisch peinigenden, unsere Fantasie negativ bis über die Schmerzgrenze hinaus anregenden – Schandtaten, die dem Jungen zugefügt werden, wie er malträtiert oder ausgestoßen wird, wiederholen gleichnishaft das Schicksal jenes bunt bemalten Vogels, den einer seiner Zufallskontakte gefangen, mit Farbe bemalt und markiert hat, um ihn dann ins Freie zu entlassen, wo er von seinen Artgenossen seiner Fremdheit wegen totgehackt und zerrissen wird. Es ist wie das Andersen-Märchen vom »Hässlichen Entlein« nur ohne Happy End.
Dass Harvey Keitel, Udo Kier, Julian Sands und Stellan Skarsgård bei Marhoul ihre Gastauftritte zelebrieren, als wären sie bei Lars von Trier, wirkt leicht gespenstisch und in dieser bestürzend schönen, streng rigorosen Komposition so, als hätte Andrej Tarkowski sich in seinen Filmen geschmückt mit Hollywood-Prominenz. Nicht von ungefähr lässt »The Painted Bird«, der auf einem halben Dutzend internationaler Festivals ausgezeichnet wurde, an die Großmeister des russisch-sowjetischen Kinos denken, auch wenn er viel weniger bescheiden und in seiner Stilversessenheit spekulativer ist.
»The Painted Bird«, Regie: Václav Marhoul, Tschechien 2019, 170 Min., Start: 9. September