Der Titel teilt das Ende seiner Geschichte bereits mit: »Nahschuss«, auch wenn erst mit dem Abspann der historische Bezug aufgedeckt wird. Ein Schuss, mit dem das Opfer gezielt von hinten, ohne Vorwarnung, getötet wird, wenn es den Vollstreckungsraum betritt. So geschehen 1981 in der Justizvollzugsanstalt Leipzig. Hingerichtet wird der wegen Spionage und Fahnenflucht überführte und verurteilte 39-jährige Werner Teske, der als Finanzökonom eineinhalb Jahrzehnte zuvor vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben und in den Westen als Spion geschickt worden war. Das Todesurteil war das letzte seiner Art in der DDR und wurde vor der Öffentlichkeit und selbst gegenüber den Angehörigen des Häftlings geheim gehalten.
Vor dem Hintergrund dieser nur umrisshaft gezeichneten ‚wahren Begebenheit’ entwickelt sich Franziska Stünkels prominent mit Lars Eidinger und Devid Striesow besetzter Film, der die Methodik und Mechanik des Thrillers anwendet, aber sich in gewisser Weise ebenso dem Genre Kostümfilm zurechnen lässt. Die DDR als Requisitenkammer und Kulisse, fotografiert in ausgebleichten, glanzlosen Farben. Eine lichtlos abgedichtete Welt, deren Leichenblässe aber inszenatorisch keine ironischen Lichter aufsetzt, wie es – umgekehrt etwa – Niklaus Schilling 1982 in seinem Agenten- und Deutschlandfilm »Der Westen leuchtet« tat. In »Nahschuss« geht es so bitterernst zur Sache wie bei Henckel von Donnersmarck in »Das Leben der Anderen« oder in »Wir wollten aufs Meer« von Toke Constantin Hebbeln. Als trüge das System Unrecht immer Grau. Das ermüdet nicht nur das Auge.
Franz Walter (Eidinger), Ingenieur auf dem Weg zur Entwicklungshilfe nach Äthiopien, wird umgeleitet: Sein Leben nimmt fortan eine radikal andere Bahn. Das attraktive Angebot einer Professur in seinen jugendlichen Jahren und eine elegante Wohnung mit allen Schikanen wird verknüpft mit der Bedingung, zunächst seine wissenschaftliche Qualifikation dem Staatsapparat zur Verfügung zu stellen: der HV – Hauptverwaltung Aufklärung.
Mann ohne Eigenschaften
Er willigt ein, wird zum Geheimnisträger und darf ins feindliche Brüderland, lebt mit Privilegien, die ihm sein Opportunismus einbringt, während seine Redlichkeit als Wissenschaftler, Mensch, Liebender und Ehemann seiner Frau Corina (Luise Heyer) sich immer mehr strapaziert. Die Zeit nährt den Zweifel. Er führt Franz Walter zur Überlegung des Seitenwechsels, mehr noch, geradewegs in die Ich-Spaltung, er wird sich selbst zur Doppelexistenz und zum Schattenmann, dem sein Darsteller die ihm typische Schlaffheit zufügt. Ununterbrochen schwimmt Eidinger im emotionalen Hochwasser: so, als ob sein Spiel durchfeuchte und verschwitze.
Walters Gegenüber und Vorgesetzter ist Dirk Hartmann. Devid Striesow hat schon mal einen solchen Mann ohne Eigenschaften gespielt: für Christian Petzold, von dem man sich wünschte, er hätte »Nahschuss« inszeniert. In dessen Wendezeit-Gespenstersonate »Yella« ist er als Private-Equity- und Risikokapital-Ritter Philipp die ungreifbare Verkörperung einer postkapitalistischen Ideologie – nicht anders als das östliche Pendant im gegnerischen System, das keinen fiesen Trick auslässt. Er ist die reine instrumentelle Vernunft. Striesow zeigt mit seinem versierten trockenen Minimalismus in jeder Körperbewegung und sprachlichen Nuance den Biedermann und offenbart, dass die Bezeichnung Funktionär von funktionieren kommt. Die Banalität des Bösen macht das Böse ja nicht weniger böse, sondern stellt es in einen luftleeren, weltlosen Raum. Selbst wenn er es sich persönlich beim operativen Geschäft auf Staatskosten gut gehen lässt und einen drauf macht, scheint das eher Teil des Auftrags zu sein, als lustvolles Vergnügen. Im Grunde ist er ein Alien. »Nahschuss« hält sich an seinen Fall und will zugleich zu viel und dabei ein gesamtes politisches und gesellschaftliches System überführen oder zumindest über es aufklären. Genau damit bringt es seinen Helden in Erklärungsnot. Franz Walter bleibt ein Aktenzeichen.
»Nahschuss«, Regie: Franziska Stünkel, D 2021, 116 Min., soeben gestartet