Ausgestoßen
Eröffnungsfilm: »Aufzeichnungen aus der Unterwelt«
Es ist das Wien, das wir von Karl Kraus, Helmut Qualtinger und Carol Reeds »Der dritte Mann« kennen: das mehr schwarze als weiße Wien, das gemütliche, sentimental-finstere, jovial-brutale Wien. Alte Herren, die etwa im Beisel sitzen, erzählen: Persönliche Geschichte spült Zeitgeschichte hoch. Curt Girk, der vorbestrafte Wienerlied-Sänger, und der als »König der Unterwelt« apostrophierte Fleischer, Kartentrickser und Bandenboss Alois Schmutzer, der als halbwüchsiger ‚Loisl’ in »Raufhandel« mit der Polizei geriet, nachdem die seinen jüngeren Bruder getötet hatte und die den Älteren seither auf dem Kieker hat, sowie weitere Zeitzeugen, Kumpane und Alois’ Schwester Helli berichten: vom »Schleichhandel« (Schwarzmarkt), von wendigen Nazis, die nach dem Einmarsch der Russen ganz fix ‚Rote’ wurden, von Recht und Gerechtigkeit, von Bürgerordnung und Ganovenehre in der Folgezeit. »Es war viel Gewalt in Wien damals«, sagt einer über die 60er Jahre. Den gekrümmten Biografien von »Ausgestoßenen, Abgestempelten« und Seiltänzern des Lebens schenkt das vielfach ausgezeichnete Filmemacher-Paar Tizza Covi und Rainer Frimmel seine Aufmerksamkeit, die in diesen »Aufzeichnungen« zusätzlich von der strengen, sich auf die Ansicht der Interviewten konzentrierenden Kameraführung eingefordert wird. Ein Film im Angesicht individuellen und sozialen Schicksals.
2. November (20 Uhr), 8. November (13 Uhr)
Innenansicht
»Jetzt oder Morgen«
Noch einmal Wien. Wieder der soziale Randbezirk, Aber ganz anders. Lisa Weber geht mitten hinein, wahrt willentlich nicht Abstand, rückt den vier Personen einer Familie auf den Leib. Viel Platz ist ohnehin nicht in dem Wohnheim, wo die mit erst 15 Jahren Mutter gewordene Claudia und ihr Söhnchen Daniel anfangs zusammen mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder Gerhard lebt. Nicht nur Enge und Lärm führen zu Spannungen. Ermattung, Depression, psychosomatische Störungen, Entleerung, Isolation, Zeit-Totschlagen. Stillstand, abgesehen von einem Wohnungsumzug und dem neuen Freund für Claudia. »Hope« lässt nur ein Popsong anklingen. Alle drei Erwachsenen sind ohne Arbeit. »Jetzt oder Morgen« wendet die Methode von Daily Soaps an, um erkennen zu lassen, wie wenig diese fake reality taugt, egal für welche Wirklichkeit. Das Leben hat – immer – eine andere Passform. Beklemmend ist diese Studie, die mit einer langen Drehzeit von drei Jahren entlang von Familien-Geburtstagen mehr zeigt als eine Momentaufnahme, sie stiftet ein Sittenbild, auf das zu blicken keine geringe Zumutung ist: zuvörderst für diejenigen, von denen es handelt. »Sonst gibt’s nix Neues«, sagt die Mutter.
3. November, 19 Uhr
Der Riss
»Rift Finfinnee« von Daniel Kötter
Langsame Bewegung. Das gemächliche Seitwärts-Gleiten des Kamera-Auges, das weite Panoramen erfasst und in großer Ruhe Landschaft sichtbar werden lässt, als wäre es ein Wimmelbild des älteren Pieter Bruegel, ist ein Statement: Protest gegen das rasend Radikale und Zerstörerische ökonomischen Fortschritts. In Addis Abeba frisst er buchstäblich den Boden weg. Die Hauptstadt Äthiopiens liegt geologisch an den Ausläufern des afrikanischen Grabenbruchs. Der Spalt und Keil, den die Erdkräfte bewirken, zeigt im übertragenen Sinn auch den Riss, der durch das Land und sein gesellschaftliches Gefüge geht. Das macht Daniel Kötters essayistische Filmerzählung, in die Mitteilungen, Besorgnisse, Erfahrungsberichte wie aus einem Echoraum dringen, auch formal anschaulich. Während auf der einen Seite des Hochlandes die Agrikultur ihr Tempo und das Gleichgewicht der Natur beibehält, schieben sich auf der anderen öde Wohnsiedlungen heran, ragen die Skelette von Häusern auf, für die die Steinbrüche des Gebirges herhalten müssen und Arbeiter in Bussen herbeigekarrt werden, erscheint eine Villen-City wie eine Fata Morgana. Im Gegensatz zu diesem absurden Luxus sieht anderes ruinös und baufällig aus, bevor es noch bezogen wurde. Mögen alte Konflikte beigelegt sein, das Wachstum der Zukunft züchtet und päppelt neue. In der Urbanisierung, die Entwicklungsagenturen, Investoren, Business und Politik vorantreiben, haust bereits die Verslumung – wie in Doktor Jekyll sein Mister Hyde.
3. November, 16 Uhr
Abgründig
»Ich habe dich geliebt«
Ein junger Mann denkt darüber nach, seinem Leben ein Ende zu setzen. Wir sehen ihn mit dem Rücken zur Kamera, auf dem Balkon seiner Hochhauswohnung in Stendal, rauchend und sinnend, dann dreht Ben sich um, hält den Kopf gesenkt, geht hinein. Ein Schritt entfernt vom Abgrund. Seine Stimme berichtet aus dem Off, während wir ihn beobachten, wie er sich ein weiteres Tattoo in die Haut fräst. Er beklagt seine Kindheit mit einem gewalttätigen, lieblosen Vater, und die Anstrengung, es mit sich selbst auszuhalten. Er und Katharina trennen sich, wenn sie denn je zusammen waren, obgleich sie sogar einen kleinen Sohn haben, der nicht bei ihnen lebt und uns so unwirklich erscheint, wie das fiktive Kind von Martha und George in Albees »Wer hat Angst vor Virginia Woolf«. Der Film protokolliert mehrere nicht sehr reife, allerallerletzte Beziehungs- und lähmende, sich im Kreis windende Trenngespräche mit der ziemlich kindischen Katharina, die wir auch in ihren sich selbst inszenierenden, bei TikTok eingestellten Musikvideos sehen. Ben und Katharina tauschen nur Vorwürfe, ge- und enttäuschte Erwartungen und phrasenhafte Selbstbehauptungen aus: psychologische Kriegsführung, die nie Befriedung schafft. Bei ihm ist es verquere Romantik, bei ihr bockige Abwehr. Rosa Hannah Ziegler führt die Banalität des Liebens und Fühlens vor und in gewisser Weise auch dieses Paar, das man packen und zu einem Mediator – und getrennt voneinander zu sich selbst – bringen möchte.
7. November 16 Uhr
Hinter Glas
»Oeconomia«
Carmen Losmann will die Spielregeln des Systems erkennen: Wie hängen Wirtschaftswachstum, Verschuldung und Vermögenskonzentration, Investition und Profit zusammen, wie funktioniert eine Bank und entsteht Wertschöpfung, welche Prozesse und Dynamiken löst es aus, wenn ein Kredit vergeben wird, was verursacht die Entwicklung vom Boom zur Krise? Die Fragen klingen zunächst einfach, die Antworten sind es weniger. Die Methode wiederum, die »Oeconomia« anwendet, mit Computergrafiken, nachgestellten Performance-Gesprächen, Spielszenen, einer Würfelspielrunde, Interviews, Meetings, protokollierten telefonischen Anfragen, operiert raffiniert mit (scheinbarer) Naivität. Ein Schelm wäre, der behauptet, dass Bankgebäude deshalb eine Transparenz suggerierende gläserne Architektur bevorzugen, weil in ihnen Dunkelmänner tätig sind. Dass sie sich allerdings gern abschotten, erfährt auch die Filmemacherin. Wenn nicht, sind sie verdutzt und perplex. »Oeconomia« bringt Licht ins Halbdunkel. Karl Marx hätte seinen Spaß daran.
5. November, 16 Uhr
Duisburger Filmwoche: 2. bis 8. November
Im Online-Angebot der Duisburger Filmwoche werden in Taktung des Festivalprogramms die Wettbewerbsfilme sowie die aufgezeichneten Gespräche mit den Filmschaffenden präsentiert und stehen dort für 72 Stunden zur Verfügung.
Das Festival bietet neben dem Film- und Wettbewerbsprogramm (einiges davon online) noch mit »doxs!« ein Programm für Kinder und Jugendliche sowie Konferenzen und Diskussionen zur Doku-Serie und zu Strategien in der Dokumentarfilmpolitik.