Hatten wir bei der Duisburger Filmwoche diesmal einen Jahrgang erwartet, der mit fliegenden Fahnen die Brandherde – Europas Krieg, Klimakrise, Pandemie, unsere nun schon nicht mehr ganz neue, aber immer noch ungeheuerliche Ungewissheit – aufgreift und reflektiert, so sehen wir uns getäuscht. Im Filmforum am Dellplatz gibt es vom 7. bis 12. November keine direkten Interventionen. Stattdessen werden eher Anti-Modelle, Gegenentwürfe und Schein-Idyllen gezeigt und Leerstellen besetzt – ein kleiner Streifzug durchs Programm unter dem neuen Leiter Alexander Scholz, der bereits im vergangenen Jahr kuratorisch mitgewirkt hatte.
Im stählernen Griff: Der Eröffnungsfilm: »Tara«
Eine Nachtszene, Licht und Schatten dramatisch verteilt wie auf einem Gemälde von Caravaggio. Wir sind in Italien, im Land der katholischen Kirche. Kerzen werden ins Flusswasser gesetzt, um eine Bitte an die Madonna zu bekräftigen. Hilfe tut not. »Tara« heißt der Film, Tara heißt der Fluss, an dem die uralte apulische Küstenstadt Taranto liegt – und die Industrieanlage ILVA, ein Stahlwerk, das chemische Rückstände hinterlässt, die Natur verschandelt und verseucht und Widerstand herausfordert. Das kennen wir aus dem Revier an Ruhr und Emscher mit seinen – geglückten – Anstrengungen der Renaturierung und nachhaltigen Säuberung. Genügsame Esel grasen, junge Leute baden im Fluss, Familien lagern am Strand, Fische ziehen unter Wasser, Gewächse wiegen sich still, das Grün grünt so grün wie bei »My Fair Lady«. Ein bukolisches Idyll, so scheint es. Der Film von Francesca Bertin & Volker Sattel kommentiert selbst nicht, er dokumentiert schweigend, belauscht Anwohner, Freizeitler und Gesundheitsapostel, die den schwefelhaltigen Tara-Schlamm und seine Heilkraft schätzen, besorgte Bürger, die Komitees bilden, Wissenschaftler, die Messungen vornehmen. Betrachtet Orangenhaine oder ein Klostergemäuer. Historisches Bildmaterial zeigt, wie der Stahlkoloss das Kulturland okkupiert, sich in die Erde hineinsprengt, ewige Olivenbäume fällt, eine Schutthalde aufschüttet und eine Deponie errichtet, deren Müll ungehindert in Grund und Boden dringt. Glühendes Erz wird verarbeitet, als lodere Wagners Nibelheim. Das Fabrik-Monstrum schiebt sich ins Bild und zerstört mit Macht das Panorama, von wo man auch schaut. Politik und Behörden verschleiern verantwortungslos die Realität zugunsten der wirtschaftlichen Potenz und Erpressungsrhetorik des Unternehmens. In der Nachhut entstanden hässliche, lebensfeindliche Wohnkasernen, in denen ein Mann aus Plastikflaschen Blumen und Tierfiguren kreiert. Auch ein Akt der Revolte. Schönheit im Schädlichen.
7. November, 21 Uhr
Im Abseits: Ukrainische »Three Women« von Maxim Melnyk
Ein kalter Ort, jedenfalls in der Bedeutung und Übersetzung des Dorfnamens. Zeitlos und zeitverfallen. Die jungen Leute hat es fortgezogen. Wir sind in den Karpaten, am Rande von Slowakei und Polen. »We live in a dead end«, sagt eine der Frauen, die älteste. Unwirsch ist sie, aber nicht ganz ernst dabei: Sie habe genug von der Filmerei. Ob es hier hübsch sei, darauf nur ein nüchternes Schulterzucken. Als ob das eine Überlegung wert sei oder etwas ändere. Es ist, wie es ist. Punktum. Das Dorf stirbt – stirbt aus. Der Priester kommt und spricht den Segen, auch über ein Automobil. Fromme Wünsche. Man weiß ja nie. Friedlich ist es, noch. Und hart, winters wie sommers. Eine weitere in dem filmischen Protokoll »Three Women« ist eine nicht mehr junge Biologin, die Untersuchungen im Nationalpark vornimmt. In einem verlassenen Haus blieb die angestaubte Fotografie einer Großfamilie hängen. Sie wurde beim Aufbruch zurückgelassen. Als würde Zusammenhalt keinen Wert mehr darstellen. Im Postamt zahlt die Dritte die Renten aus, die Anlass bieten, über die Oligarchen zu schimpfen. Auch die Präsidentschaftswahlen 2019, die Selenskyi gewinnt, werden skeptisch kommentiert. Kiew ist weit, das Rindvieh auf der Weide real. Traurigkeit und Verlassenheit bedrücken die Seele und unerfüllte Hoffnungen, die auch kein Horoskop korrigiert. Die Frauen leben, arbeiten, schwatzen, singen, beten, sterben: im Abseits. Die alte Frau sagt: »Dark bread means sorrow.«
12. November, 11 Uhr
Im sozialen Liliput: »Nakskov 1:50« aus Dänemark
Die Welt en miniature, im Verkleinerungsmaßstab. Putzig, ein Kinderspiel. Aber aufs Große betrachtet doch weit mehr als das. Wie im italienischen Taranto prägt der Arbeitgeber auch in Dänemark soziale Befindlichkeit. Männerhände tüfteln am Modell der Zuckerfabrik, in der sie früher in Lohn und Brot standen. Neben der Werft war die Raffinerie der Hauptarbeitgeber von Nakskov, einst Fixpunkt in der europäischen Kolonialepoche mit ihren weiten Handelswegen und ihrer Ausbeutungs-Ideologie. Ein Jahrhundert Arbeit im Wandel der Zeiten, in denen sich mühsam die Arbeiterbewegung formierte, sich der vorbildliche skandinavische Wohlfahrtsstaat begründen sollte und der allgemeine Komfort an die Stelle von politischem Einfluss trat. Matilda Mesters stimmungsvoller Filmessay sammelt und mischt Fotografien aus den 1920er bis 70er Jahren, als Arbeit mehr bedeutete als ein Zehn- oder Acht-Stunden-Tag, sondern spezifisch gesellschaftliches Miteinander und Freizeit bestimmte, sich Netzwerke knüpften und die ‚roteste Stadt’ Dänemarks sich politisch behauptete. Nalskovs Gegenwart ist eine andere, postindustrielle. Die pensionierten Arbeiter halten die Erinnerung wach und damit auch sich selbst: im Männerchor oder Ruderclub und anderen Seniorengruppen, sitzen beisammen, betreuen das Zuckermuseum oder basteln an der Miniatur. Ein bisschen auch wie Liliput.
8. November, 20 Uhr
Im Schweigen: »Benedikt« von Katrin Memmer
»Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget…« Die zeitentrückte Matthias-Claudius- und Hermann-Löns-Stimmung scheint diesem Leben die Tonart vorzugeben. Stillleben mit Mensch und Tier: ein bärtiger junger Mann, der gemächlich sein Müsli kaut, in den Kissen schlummert, die Füße in Filzschuhe steckt, Feuer macht, sägt, rodet, Heu einfährt, werkelt, manchmal flucht. Überhaupt in der Natur unterwegs ist, wenn er seinem Beruf nachgeht – und allein ist, auch an Weihnachten. Benedikt ist Imker. Er füllt Honig ab, Glas um Glas wird etikettiert und in Kartons verpackt. Zwar wuchtet er die hölzernen Wabenkästen und stellt sie auf. Aber Bienen sehen wir erst ganz spät. Vorher wohl seine Schafherde und wie er eines der wolligen Tiere häutet und zerlegt. Katrin Memmer schweigt ebenso wie einige andere Dokumentaristen im Jahrgang 2022, sie sparen sich den Kommentar und sparen aus. Das Gezeigte spricht für sich bzw. öffnet sich Bild um Bild, wenn etwa bei einer langen Kamerafahrt die Bäume in den Himmel wachsen. Ludwig Wittgenstein dekretiert in seinem »Tractatus«: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.«
9. November, 20 Uhr
Im Schatten des Ruhms: »Vera« von Tizza Covi & Rainer Frimmel
Zunächst sehen wir Vera von hinten. Das glatte lange blonde Haar, schwarze Leder-Silhouette mit breitem Hut. Wenn sie sich umdreht, enthüllt die Anmutung von Jugend ihr wahres Gesicht: verwüstet unter dem Make-up. Tochter eines berühmten Vaters, des Filmstars Giuliano Gemma, einem Schönheitsidol der 60er Jahre und späteren Charakterdarsteller: Die Schauspielerin Vera Gemma ist ein Nighthawk, streunt umher, sucht Kontakt (etwa zu einem jungen Taxifahrer), geht shoppen, debattiert im Bett unter dem Porträt des Vaters mit ihrem Liebhaber Gennaro, schaut Super-Acht-Filme ihrer Kindheit mit dem gloriosen Papa, geht zum Vorsprechen und zu ihrem Agenten und nährt die Illusion früheren Luxuslebens. Zeitverfallen auch sie. In dieser Welt sei nichts umsonst, sagt sie, als wisse sie von allem den Preis, auch den eigenen. »Vera« zeigt die andere Seite des Dolce vita: Imitation of life, die falschen Träume, Enttäuschungen. Durch einen Autounfall trifft sie auf eine mittellose kriminelle ‚Ersatzfamilie’, um deren kleinen Jungen sie sich kümmert – sie wird betrogen und beraubt. Es verwundert einen bis zur Fassungslosigkeit, dass Vera Gemma der Kamera erlaubte, dieses intime Porträt einer einsamen Frau zu drehen. Vor dem römischen Grab des Goethe-Sohns August denkt sie nach über die Egoismen der Väter. Ob die auch die Glücklosigkeit der Kinder verschulden?
11. November, 20 Uhr