»Stille Feiung« heißt der Begriff, den der 12-jährige Juli(an), Hauptfigur in Ralf Rothmanns Roman »Junges Licht« in Werner Höfers »Frühschoppen«-Sendung hört. Er weiß nicht, was das Wort bedeutet – aber es gefällt ihm. Beim Nachschlagen erfährt man, dass Stille Feiung eine bestimmte Reaktion des Körpers auf eine Infektion darstellt, die ähnlich wie eine Impfung funktioniert und auto-immunisierenden Charakter hat. Charly Hübner, der in der von Adolf Winkelmann inszenierten, von seinen Schwägern Till und Nils Beckmann adaptierten Rothmann-Verfilmung den Vater Julians spielt, hat diesen Abwehrmechanismus selbst ausgebildet. Der Prozess von Selbst-Therapie ist ihm nicht fremd.
Charly Hübner, mit Leib und Seele entspannt, sitzt schon da. Fensterplatz. Direkt an der Waterkant. Blick aufs Hamburger Hafen- und Elbwasser. Nicht weit vom »Goldenen Handschuh« – gerade habe er Strunks Buch über den Serienmörder Honka gelesen und weist mit der Hand ins Ungefähre weiter oben. Gefühlte Große Freiheit, Nr. 49 in diesem Fall. »Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren, nie.« Heißt es bei Rothmann. Ein Satz für Charly Hübner. Er gilt – von Staats wegen, fürs Theater und ganz persönlich.
Das reine Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten. Beinahe würde man vergessen, dass er Schauspieler ist und nicht eher Dramaturg oder Dozent für Kreatives Schreiben an der Filmhochschule. Beredt, beiläufig präzise, mit eigener Sprache, kompetent, analytisch – ein gut organisiertes, scharf denkendes Gehirn. Wach und hell im Kopf – auch als Kopf mit klar gezogenen Konturen. Sagt man das noch außerhalb bajuwarischer Stammtische: Mannsbild? Und wenn, sagt das ein Mann über einen anderen Mann? Josef Bierbichler ist so ein Kerl. Es gibt ihn auch in Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern: Charly (eigentlich Carsten) Hübner, 1972 in Neustrelitz geboren, 1,92 Meter groß, reichlich mehr als hundert Kilo und voller Kraft durch Freude am Leben. Ein idealer, kapitaler Brecht-Puntila. War er auch schon, unter Herbert Fritschs Regie am Schauspiel Köln.
Hübner hat ein großes Herz – für die Sportkarriere war es zu groß, Handball und Leichtathletik musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Geblieben ist der Impuls, »nie vor dem Ziel klein beizugeben. Ich würde erst aufhören, wenn ich das Geheimnis geknackt hätte«. Für Bühne und Kamera ist das Herz-Volumen genau richtig: weit umspannend. Hübner – frisch mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring belehnt für seine Rollen am Hamburger Schauspielhaus in Dostojewskis »Schuld und Sühne« und als Tschechows »Wanja« in seiner kernigen, leicht lachhaft weinerlichen, kurios ausschlagenden Großmannssucht – ist eine Wucht: intensiv, ehrlich. Stabil, aber graziös. Die Begabung fürs Komische bricht das Kolossale, der Charme opponiert gegen die massive Attacke. Seine Sonnenseite kann sich blitzschnell umwölken. Harter Brocken – mit saugendem Curd-Jürgens-Blick. Nervenstark für Russisches Roulette. Eigentlich hat er ein fein gezeichnetes Profil, wie von Warhol hingestupst, als der zwei verliebte Jungens für Genets / Fassbinders »Querelle«-Plakat entwarf.
Die Gegend tief im Westen und sein östlicher Norden um die Feldberger Wald- und Seenlandschaft und den nahen Fallada-Ort Carwitz – »ein Auenwald, wie das Ruhrgebiet, bevor Kohle gefördert wurde« – haben eine Menge miteinander zu tun. Zumal für Hübner »die mentale Heimat viel grundsätzlicher als die politische verankert« ist.
Lina Beckmann, die winterfeste Revier-Blüte aus Hagen, und Hübner sind ein Ehepaar. Sie haben sich in Köln während Karin Beiers Intendanz getroffen und erstmals im »Kirschgarten« und dann in Dostojewskis »Idiot« – sie als Fürst Myschkin, er als Seelen-Samson Rogoschin – miteinander gespielt. In Tschechows Verlust-Komödie sind sie zwei, die nicht zueinander finden, Warja und Lopachin. Der bäuerische Aufsteiger und romantische Materialist schafft es in Karin Henkels toll kreisender Inszenierung nicht, der Frau, die er liebt, das entscheidende Wort zu sagen. Vielleicht ist die von Lina und Charly jeweils als Huckleberry-Finn-haft glücklich geschilderte Kindheit ein bindender Baustein für gemeinsame Zukunft. Gewiss aber das Aroma einer gefühlten und realen Heimat in ihrem unaffektiert lauteren, herzlich rauen Charakter. Lina Beckmann sagt über Charly: »Er scheißt sich nicht.« Was meint: Er ist nicht zimperlich, nicht etepetete. Reell. Und widerborstig. Bei der Musterung in der DDR hieß es über ihn: »disziplinarisch auffällig«.
Auch der Vater in Rothmanns »Junges Licht«, Walter Collien, der als Bergmann im Revier malocht, hatte nach dem Krieg als Melker an der Nordsee-Küste gearbeitet. Milieu-Gemeinsamkeiten. Winkelmann und er, erzählt Hübner, hätten sogar den Namen Collien ins Pommersche hinein abzuleiten gesucht. Der Essentialist Rothmann (»Du kannst ihn immer metaphysisch aufladen«, so Hübner) setzt in seinen Büchern kein Gramm zu viel an. Walter (Wühler, Waller) Collien geht in die Stille, nicht nur Unter Tage. Vielleicht versteht man ihn erst ganz, indem man die Figur des jugendlichen, für den Krieg der Nazis als letztes Aufgebot eingezogenen Walter Urban aus Rothmanns letztem Roman »Im Frühling sterben« (ein »Hammer-Buch«, findet Hübner) und dessen unaussprechlichen Todes-Erfahrungen hinzu denkt.
Er, der »norddeutsche Bär«, habe gezögert, ob sein »Bauern-Maß« nicht zu massig sei für Walter Collien, ob er »nicht 15 Kilo runterwuppen« müsse. Aber es gab auch echte Schränke da unten«. Adolf Winkelmann und er haben sich Fotobände wie »Im Ruhrgebiet« von Chargesheimer / Böll angeschaut und den Typus durchaus gesichtet. 1960 trug man schon Bauch und hatte was auf den Rippen. Ohnehin ist anderes wesentlicher als die Statur. Auch Hübner hat die Ruhe weg, ist in sich gesammelt – wie man sich Collien vorstellt. Beim Dreh zu »Junges Licht« sei er während der Pausen oft in der Grube geblieben. Der kristallinen Ruhe wegen. »Es gibt kein Dazwischen. Die ist absolut. Anders noch als die von Wald und Meer.«
Als die ARD 16 Kurzfilme über die Bundesländer produzierte, jeder von einem anderen Regisseur, porträtierte Hübner Mecklenburg-Vorpommern und zeigte die Natur verwunschen, aber nicht unberührt, sondern von Naziaufmärschen vergewaltigt: Heimat als Ort, so die SZ, »wo sich Schönheit und Schmerz begegnen«.
Charly Hübners DDR-Geschichte ist exemplarisch und individuell zugleich. Das Heranwachsen war nicht vom beständigen Leiden am System begleitet, obgleich das drückende Klima spürbar blieb. Episoden und »Begleitumstände«, wie Uwe Johnson eine Vorlesungsreihe betitelt hat, verdichten sich zu Lebensgeschichte: Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten im »materialistischen Wettrennen« sei halt immer besetzt gewesen von dem Gegensatz, »dort ist das qualitätsvoll Gute, bei uns nur der Schrott«. Er erzählt, einen Kassettenrecorder für 900 Ostmark bekommen zu haben und »stolz wie ein Prinz« gewesen zu sein, bis er das technisch versiertere West-Exemplar sah. Und erinnert sich, es war 1986/87, als ein DJ in der heimischen Disco Udo Lindenbergs »Sonderzug nach Pankow« auflegte: »Am nächsten Tag war die ganze Familie weg, ausgewiesen.« Die Nacht der Nächte 89 bekam er erst mit Verspätung mit, weil er die Nachricht von der offenen Mauer zunächst für die vom Alkohol umnebelte Fantasie eines Betrunkenen gehalten hatte. Dass sein Vater, Hotel-Betreiber und stellvertretender Bürgermeister, Stasi-Mitarbeiter war, erfuhr die Familie spät. Das Geständnis erfolgte 2006 nach gemeinsamer Ansicht des Films »Das Leben der Anderen«, in dem Charly die Wachablösung für Ulrich Mühe spielt.
Seit Jahren versuchen die drei Hübner-Geschwister, Akten-Einsicht bei der Bundesbehörde zu erhalten. Bislang vergebens. »Womöglich würde man über sich selbst etwas herausfinden, was man noch nicht von sich wusste, etwas wie eine genetische Information«, sagt Charly Hübner.
Rothmanns Vater-Figuren haben auch ein Vorleben, aus einer anderen Diktatur ihres Alltags, über das die Männer sich ausschweigen. Männer, deren Körpern das Stummsein eingeschrieben war. Grabesschweigen. Hübner spricht von »Erstarrung und Lähmung«, mit Blick auf seine Eltern und deren Reaktion auf die Wiedervereinigung und vielfältige Erfahrungen von Ent-Täuschung.
Nach der Wende und der Schule, wo man nun in den Fächern Deutsch und Geschichte etwa Biermann, Grass und Stefan Heym als Lektüre fordern, immerhin Schiller und Antigone durchsetzen und anderes »abschmettern« konnte, zog Charly Hübner nach West-Berlin. Dachte daran, Reporter, Publizist oder Dolmetscher zu werden, und bewarb sich nach einigen Kontakten mit dem Theater und einem Aha-Erlebnis im Amphitheater von Ephesos an der Talentschmiede Ernst-Busch-Schule. Mit der juvenil-präpotenten Gruppe um Kühnel, Schuster, Tschirner (»wir waren unglaublich arrogant«) ging er 1999 mit Ende des Studiums nach Frankfurt, wo ihnen als Nachfolge von Tom Stromberg das TAT im Bockenheimer Depot (»Halle mit Kohle«) angetragen worden war.
Zu viele Rollen. Es kam zur Krise und zu somatischen Reaktionen. »Ich war 30 und der Lebensaufwand einfach zu groß. Während des Verbeugens nach einer Vorstellung« – er spielt die halbe Bewegung vom Tisch aus – »dachte ich, es hat keinen Sinn«. Heute sei er »froh, dass ich da so aufmerksam gegenüber mit selbst war«. Hübner nimmt eine Pause vom Theater, dreht fürs Fernsehen, auch Vorabendserien (»das versendet sich«). »Nach fünf Jahren war ich wieder soweit.« Ausgestattet mit neuem Selbst-Bewusstsein. Überlegter. Kontrollierter. Selbstüberprüfend. Hübner, zu Zeiten eifriger Zuschauer im Theater, wenn es sich lohnt, sucht nach dem »Mehrwert an Bedeutung«. Findet ihn auch mal. Zum Beispiel bei Jürgen Gosch, »qua Autorität und Meisterschaft«. Für Schimmelpfennigs »Hier und Jetzt« haben sie sich in Zürich getroffen. Hübner spürte: »Ich kann mit ihm vielleicht nicht groß reden, aber ich gebe mich ihm ganz hin.«
Theater, Film, Fernsehen. Auszeichnungen, darunter der Grimme-Preis für »Bornholmer Straße«, Bayerischer Filmpreis, Goldene Kamera, Bambi. Seit 2010, mittlerweile mehr als ein Dutzend Mal, ermittelt er als Kommissar im ARD-»Polizeiruf« aus Rostock. Hübner als Sascha »Bukow wie Tschechow oder fuck off«: ein Kerl, sympathisch ruppig, gerad heraus, sich durchboxend, selbst im Zwielicht und unter Druck stehend, verwundbar.
Dass Hübner weniger aus dem Bauch heraus agiert, muss man erst kapieren. Er ist ein Kopfmensch. Begabt, eine Person, Situation oder Stimmung, eine Aufführung, einen Regie-Stil mit einem Bild oder Begriff treffend zu fassen. Kritisch, ohne zu kränken. Kein kalter Betrachter, hat er vielmehr etwas Wärmendes, erquickend Lebensfreundliches. Gemütsmensch und zoon politicon. Man fühlt sich wohl mit und zugleich gefordert von ihm. Charly Hübners körperlicher Freigeist erfüllt die ganze Person.