»Nichts steht geschrieben«, sagt Lawrence of Arabia in David Leans Film und revoltiert damit gegen das Gesetz des Fatalismus. Was steht geschrieben, was ist selbst verantwortet, was ermöglicht Freiheit und wo kommt die an ihre Grenze? Das zeigen Filme aus Deutschland, Österreich und den USA – über unsere Gegenwart, über fremde Heimat und Heimat in der Fremde. Ein kleiner Streifzug durch das Programm der 45. Duisburger Filmwoche.
Ein anderer Generationenvertrag
Der Eröffnungsfilm »Köy« von Serpil Turhan
Spannungen, Hoffnungen, Lebensentscheidungen, eigene oder verordnete, Freiheitsentwürfe und Fragen nach dem, was Heimat ist: Kurdinnen aus drei Genrationen in Berlin, Kreuzberg erzählen von sich und weisen damit auch über sich selbst hinaus. Der Generationenvertrag, der in Deutschland als Begriff die Sicherung der Rente durch die Nachfolgenden regelt, lässt sich hier mit anderer Bedeutung füllen. Einwanderergenerationen, die ihren ‚Vertrag’ mit der alten und der neuen Heimat für sich zu regeln haben.
Zunächst breitet sich vor uns eine hügelig grüne Landschaft mit einem Gehöft aus. Dasselbe Motiv aus der Türkei hängt dann als Foto an der Wand: in einer Wohnung in Deutschland. Heimat als gerahmte Erinnerung. Eine alte Frau, die ein hartes, schmerzreiches Leben gemäß traditioneller Rollenzuteilungen hatte, spricht darüber, dass ihre Enkel nicht mehr in ihr »Köy«, ihr Dorf zurückkehren und keine Beziehung mehr dorthin unterhalten würden, während die Generation der Söhne und Töchter dort noch gebaut und in Landbesitz investiert hätte. »Im Leben darfst du nichts dem Schicksal überlassen. Alles liegt in deiner eigenen Hand«, sagt sie: Nicht ein Schicksal annehmen, sondern die Verhältnisse ändern. Dazu gehört, dass sie nach Jahrzehnten ihre Wohnung aufgibt und in eine von ihren Kindern neu gekaufte einzieht. Aber sie wird bald sterben – und in ihrem Dorf bestattet werden.
Eine junge Kurdin und Aktivistin, die frisch an der Universität der Künste aufgenommen wird, sagt auf einer politischen Versammlung, »ungeschriebene Geschichten müssen geschrieben« werden. Ihre Mutter weint, als sie von der Sehnsucht nach Köy, dem Dorf aus Kindertagen spricht.
Eine Frau der mittleren Generation, die ein Caféhaus führt, wiederum erzählt, dass ihr kurdischer Name in der Familie durch einen türkischen ersetzt worden sei – vor allem aus Angst, die Menschen einer verfolgten Gruppe inne wohnt. Sie berichtet auch, dass sie sich zu Hause wie eingeschlossen gefühlt habe, weil es einer heranwachsenden jungen Frau nicht mehr zieme, draußen umherzustreunen. Sie musste sich befreien.
Klar, konzentriert und präzise porträtiert Serpil Turhan ihre kurdischen ‚Schwestern’ und entdeckt ein Selbstbewusstsein über unterschiedliche Generationen, Erfahrungen und Überzeugungen hinaus.
10. November, 21 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Auferstehen aus Ruinen
»We are all Detroit« von Ulrike Franke und Michael Locken
Im Jahr 1600 schreibt Andreas Gryphius im Angesicht seiner Zeit: »Alles ist eitel«. Ein Befund im Sinne von nichtig und vergeblich. Menschen, Bürger, Stadtbewohner, Arbeiter lesen Zeilen aus dem Gedicht vor der Kamera. Von »Schatten, Staub und Wind« ist in dem Sonett über die Gebrechlichkeit der Welt die Rede. Verfall einer Stadt. Detroit war Herz und Motor der Automobilindustrie, General Motors baute dort den Cadillac und vieles mehr. It’s all gone. Eine Wüstenei, die ausgriff bis nach Bochum, wo, wie in Sippenhaft, das Opel-Werk zum Stillstand kam und Bagger die Gebäude niederlegten. Archivmaterial zeigt den vorherigen Aufbruch im Revier. Irgendwann gab es 20.000 Opelaner, erzählt ein ehemaliges Gastwirts-Paar von der guten Zeit, als gut verdient wurde, viele von den Fabrik lebten, die Gastarbeiter aus Polen, Italien, der Türkei kamen. Jenseits des Ozeans zog es Arbeitssuchende aus Alabama nach Michigan in die Automobilwerke, was in der Konsequenz auch den weißen Rassismus anfachte.
Alles vorbei. »We are all Detroit« ist eine Jahrhunderterzählung über zwei Kontinente hinweg. Aber es soll nicht nur vom »Ruinen-Porno« einer postindustriellen Dystopie gesprochen werden, sagt ein ‚Überlebender’ und unterscheidet die »urbanen Ruinen« im Ruhrgebiet von der »urbanen Verwüstung« in Detroit, wo die Konzerne auch an ihrer Hybris gescheitert und am Ende »wie Räuber« davongekommen seien, Chaos hinterlassen und den »Exzess des Kapitalismus« demonstriert hätten, ohne dass der Staat interveniert habe. In Bochum wird ein neuer Markenname für das umgewidmete Gelände kreiert. Stichworte: Transfer, Perspektive, Strukturwandel. Hightech auf einem hochglänzenden Marktplatz, inklusive Pflege der Anwohner. Zunächst öffnet nur ein DHL-Zentrum – »Mittelmaß«, findet ein kritischer Architekt, der größere Pläne entwirft. Auch Detroit vollzieht ein ambitioniertes Re-Building und macht aus den schlimmen Vierteln Quartiere für Hipster mit Manufakturen, kreativen Ideen oder auch landwirtschaftlicher Selbstversorgung. »Win Big« verheißt ein Plakat spekulativ. Manchmal aber nimmt Veränderung die falsche Richtung. Auferstehen aus Ruinen. Really?
13. November, 20 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Der Gefangene der Freiheit
»Uncomfortably Comfortable« von Maria Petschnig
»Alone, alone, alone in motion«, beschreibt der Mann seinen Alltag, seit er sich zu einem Leben im Jeep auf der Straße entschlossen hat – aus der Not. Er sei wie »eine Schildkröte«, die ihr Gehäuse mit sich führt. In einer Wohnung würde er sich fühlen wie im Gefängnis, das er aus 17-jähriger Haft kennt. Es ist dies der unzerstörbare Freiheits-Impuls, der Amerika und die Amerikaner bewegt, seit die ersten Weißen an der Ostküste landeten, siedelten und eroberten. So, wie der 58-jährige Marc Thompson (aus dem Off) spricht, klingt es wie ein selbst verfasstes Langgedicht in Prosa. Ein Mann, der sich in Opposition befindet: zu allem. Er jobbt fest in einem Lebensmittel-Lager, packt seine Siebensachen, hält sich proper in seinem Fitnesscenter, geht ins Kino, besucht den Friedhof, auf dem sein jung verstorbenes Schwesterchen liegt, folgt Routinen und Ritualen, unterbrochen von Unerwartetem wie einem Krankenhausaufenthalt und einem Autoschaden. So muss er im Winter mit einem Koffer in die Subway umsteigen und fühlt sich nun »weniger, als er ist«.
Ausgetauschte Textnachrichten ploppen auf. Maria Petschnig hatte Marc in ihrer Nachbarschaft in Brooklyn zufällig mehrmals gesehen und sich daraufhin für dieses Projekt zu beidseitigem Nutzen mit ihm verabredet, womit sie in eine Beziehung aus zulassender Nähe und professioneller Distanz treten. Sie redet mit ihm, immer wieder neben ihm sitzend im Wagen. Und lässt ihn beinahe ohne Unterlass seine Gedanken mitteilen – über Rassismus, Respekt, Scham, Einsamkeit, schöne und schmerzende Erinnerungen, seinen Wunsch nach Teilhabe, über Risse in der Gesellschaft und ihre strukturelle Gewalt. Das dezent intime Filmporträt zeigt zwischendurch, wie im Schnelldurchlauf unseres Hirnspeichers, Fotos aus Thompsons private life; dann wieder atmosphärische Bilder: ein leerer Spielplatz ohne Kinder im Schnee an einem Strand, wo Marc sich am Reck streckt. Eine müde Sonne, die in Blau und Wolkenweiß untergeht; oder auch nur ein Stück Asphalt. »Uncomfortably Comfortable« ist eine beeindruckende und bedrückende Langzeitstudie über Autonomie und ihre Fiktion. Marc Thompson sagt: Er lebe nicht, sondern versuche zu überleben. Zwei Jahre später bezieht er wieder ein Apartment.
11. November, 17 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Mehr als ein Kalenderabriss
»Augusts Orte« von Valérie Pelet
»Bilder und Notizen aus einem Reisejournal an die österreichische Grenze« nennt Valérie Pelet ihre sich auf Italien und andere Nachbarn weitende, europäische Chronik, die die Autorin mit Begebenheiten aus Geschichte und Weltpolitik, mit statistischem Material oder astronomischem und zoologischem Wissen und vielem mehr verbindet. Und dies wiederum mit bitteren Episoden von Grenzgängern, Immigranten, illegalen Einwanderern und Ausweisungen zusammenzieht. Ein Fixpunkt etwa ist der Moment, als allmählich die ungarische Grenze porös wird und die Wendezeit beginnt, ein weiterer der Beginn der Corona-Pandemie. Gemeinsamer Nukleus aber ist ein Kalenderdatum: der Monat August. In ihm fanden etwa der Abwurf der Atombombe 1945 oder 1961 der Mauerbau statt. Während Bilder von Meer und Strand und Feldern, von gedeckten Tischen in Wirtshäusern, von Geschäfts- und Häuser-Fassaden, Sonnenbadenden und Menschen am Pool und andere Ansichten zu sehen sind, bekommen die dazu lakonisch vorgetragenen Episoden etwas fantastisch Legendenhaftes und zugleich krass Reelles. Was bleibt, ist ein eigentümlich unheimliches Gefühl. Und eine Möwe – sie streift den blauen Horizont und fliegt gen Himmel.
12. November, 18 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Duisburger Filmwoche, 10. bis 14. November 2021, Filmforum am Dellplatz