kultur.west: Herr Koch, Frau Sommer, wie hat Sie Ihre Berufs-Biografie zum Dokumentarfilm geführt?
KOCH: Über mein Studium der Literaturwissenschaften habe ich Interesse am Kino entwickelt, als ich zum Verhältnis literarischer Avantgarden zu den damals neuen Medien, vor allem dem Kino, geforscht habe. Später habe ich oft mit Medienkünstler*innen zusammengearbeitet, deren Disziplin zunehmend von dokumentarischen Strategien geprägt ist. So war der Weg zu einem Dokumentarfilmfestival nicht so weit.
SOMMER: Ich habe bei den Kurzfilmtagen Oberhausen die Festivalarbeit für mich entdeckt, wenig später in Duisburg den Dokumentarfilm. Das war 1997. Seitdem begeistert mich diese Form, Wirklichkeit künstlerisch zu erzählen; ob auf Festivals, in Kunstkontexten oder für junges Publikum wie Kinder und Jugendliche.
kultur.west: Welcher Dokumentarfilm-Regisseur hat Ihren Blick entscheidend geprägt bzw. geschärft?
SOMMER: Eine intensive Begegnung hatte ich im Rahmen meines Studiums in Graz bei einer Vorführung von »Mit Verlust ist zu rechnen« von Ulrich Seidl. Das Publikumsgespräch hinterließ ein ambivalentes Gefühl, das mich Jahre später bei der Filmwoche wieder eingeholt hat. Seidl bringt einen dokumentarischen Konflikt auf den Punkt – wie auch immer man das bewerten mag. Die Auseinandersetzung, in die mich seine frühen Filme verstrickt haben, schätze ich sehr. Gleiches gilt aber auch für dokumentarische Positionen, die völlig anders argumentieren, wie die Filme von Ruth Beckermann, Gerhard Friedl oder Hito Steyerl.
KOCH: Ich mag Filme, die mich herausfordern, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Dokumentarfilm ist als Medium in der Lage, einen kritischen Blick auf das zu werfen, was wir Wirklichkeit nennen, und zugleich seine Bedingungen und Strategien sichtbar zu machen und zu befragen. Das ist sogar im formatierten Fernsehen möglich, ich denke etwa an Alexander Kluge.
kultur.west: Wird sich Duisburg programmatisch etwas ändern – und falls ja, in welcher Hinsicht?
SOMMER: Die Filmwoche bleibt ein Ort, der auf Konzentration setzt. Das Programm ist dicht und auf wenige Filme beschränkt, die wir in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Auch dem Diskurs geben wir weiterhin Raum. Wir wollen die lokale Stadtgesellschaft stärker für uns gewinnen und über ganzjährige Aktivitäten Präsenz zeigen. Partnerschaften, Kooperationen und Netzwerke des Festivals, auch in Österreich und der Schweiz, möchten wir ausbauen.
kultur.west: »Wer erstickt, wo wir atmen?« lautet das Festivalmotto. Das bezieht sich gewiss nicht allein auf den Eröffnungsfilm »Hambi« über den Widerstand im Hambacher Forst. Eine dezidiert politische Frage, die hinter dem »Wer« sowohl Täter wie Opfer schlechter Luft sucht – wie akut politisch ist der Duisburger Jahrgang?
KOCH: Hier halten wir es mit Godard, der vorschlug, keine politischen Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Ein bestimmter Blick auf die Welt, eine Haltung zur Wirklichkeit, ist unabhängig von Tagesaktualität hochgradig politisch. Darauf verweist auch unser Motto, wenn es daran erinnert, dass Politik eine Frage des Standpunkts und der Repräsentation ist: Was muss ein Dokument ausblenden, um zu erzählen? Wer verstummt, damit andere Gehör finden? Diese Fragen verweisen auf ein komplexes Regime des Sichtbaren und Sagbaren. Fragen, die für einzelne Filme genauso relevant sind, wie die Bedingungen von Dokumentarfilm, Kinokultur als ganzes, von Gesellschaft.
43. Duisburger Filmwoche: 4. bis 10. November