»Ich bin allein.« Allein in der Schande. So erging es Frauen, denen in Frankreich nach der Befreiung für Kollaboration und ihre Beziehungen zu Deutschen der Kopf kahl geschoren wurde. Es war Entehrung und Tortur, verachtet, geschändet und ausgeschlossen zu sein aus dem Volk, das sich im kollektiven Widerstand sah, auch wenn nicht alle Mut und Stärke dazu aufgebracht hatten. Rama Fall, hoheitsvoll wie die Königin von Saba, zeigt im Hörsaal einige dieser historischen Fotos, die die ihnen innewohnende Gewalt vermitteln. Die Literaturprofessorin bringt sie in Zusammenhang mit Marguerite Duras, die sich über die Erniedrigung der Frau empört hat, und deren erzählerische Methode, »die Wirklichkeit zu sublimieren«.
Rama Fall (Kayije Kagame) reist in die Kleinstadt Saint Omer im Département Pas-de-Calais, bezieht ein Hotel, wechselt im Zimmer die Bettwäsche, um ihre eigene mitgebrachte zu benutzen, betritt einen Gerichtssaal und setzt sich unter die Zuschauer. Angeklagt ist eine – wie Rama – junge Frau ihrer Hautfarbe und aus ihrem Ursprungsland: die Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda), geboren 1980 im Senegal, bezichtigt des Mordes an ihrer 15 Monate jungen Tochter Lili. Sie gesteht, das Kind im Meer ertränkt zu haben, ohne sich für die Tat verantwortlich zu fühlen. Ihre Begründung: »Das Leben wäre so einfacher« und sie sei Opfer »halluzinatorischer Phänomene«, die sie in ihr Handeln hineingezogen hätten, verhext von ihrer Familie in Dakar und der ihres mehr als 30 Jahre älteren, verheirateten Freundes Luc Dumontet in Frankreich. Der Prozess und die Anhörung von Laurence beginnt.
Laurence hatte eine privilegierte Kindheit, trotz getrennt lebender Eltern, und assimilierte sich scheinbar der europäischen Kultur, dem Französischen und Katholischen. Ein angepasst gehorsamer Mensch, der beinahe ferngesteuert wirkt und von Erwartungen niedergedrückt wird. In Paris studiert sie, zunächst Jura, dann Philosophie, es gibt Spannungen mit ihrer Familie. Sie trifft Luc Dumonet (Xavier Maly), der in seiner Schwäche und Verzagtheit vor der Richterin selbst seine Schuld bekennt, fühlt sich von ihm gedemütigt, verleugnet und missachtet – auch als sie von ihm schwanger wird.
Was für Gelingen und glückhafte Lebensumstände angesehen werden könnte, scheint in Wahrheit eine Art mythisches Unheil. Eine Frau unter Einfluss: paranoid, sich von »bösen Absichten« umstellt fühlend, kontaktgestört und isoliert. Medea in der Fremde, aus Kolchis entwurzelt, in Korinth nie angekommen und angenommen. Rama beobachtet den Prozess für ihr wissenschaftliches Literaturprojekt, das sie »Schiffbrüchige Medea« nennen möchte, weshalb sie sich auch Szenen aus Pasolinis-»Medea«-Film anschaut.
2015 hat dieser Fall sich ereignet. Der für den Oscar nominierte Film von Alice Diop ist eine frontal auf die Menschen und die schmerzende Intensität ihrer Aussagen fokussierte Konzentrationsübung und ein ebenso dokumentarische Wirkung erzeugender wie Beunruhigung und Ungewissheit hinterlassender Rechenschaftsbericht, der aus dem rationalen Tribunal in magische oder tiefenpsychologische Gefilde ausbricht. Rama, die in der Konfrontation mit der am Ende in Tränen aufgelösten Laurence Coly das Krisenbewusstsein für ihre eigene gespaltene Identität herausfordert, wird für uns Zuschauer zu einem zur Kenntlichkeit verzerrten Spiegelbild. Wir sehen, wie unvereinbare Welten, Empfindungs- und Denkprozesse gegeneinander stehen. Wahn und Wahnsinn bleiben unzulängliche Erklärungen. *****
»Saint Omer«, Regie: Alice Diop, F 2022, 120 Min., Start: 9. März