Kristian Lada ist der Programmdirektor der Ruhrtriennale. Hier schreibt er über das Konzept der »Kreationen«.
»Theater machen bedeutet, die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen«, – dieses Zitat von Gerad Mortier fasst das Lebensprinzip des Gründungsintendanten der Ruhrtriennale treffend zusammen. Seine Vision für das Festival entstand aus Beobachtungen über die kulturpolitische Situation in Europa am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts: »Wir erleben gegenwärtig eine Periode der Restauration«. Das neue Jahrhundert brauchte eine neue Form, um die vielschichtige und sich dynamisch wandelnde Wirklichkeit einzufangen. Wo andere nur Grenzen und Beschränkungen sahen, sah er die Chance, Kunst und Gesellschaft jenseits der gewohnten Konventionen neu zu gestalten.
Die mittlerweile weit verbreitete Idee der Interdisziplinarität im Musiktheater ist Mortiers Erbe – immer noch lebendig und stets in der Weiterentwicklung begriffen; Politik und Ästhetik im Schöpfungsakt untrennbar miteinander verbunden.
Persönliche Begegnungen mit Mortier und seiner Vision haben auch mich als Opern- und Musiktheaterregisseur geprägt – nicht zuletzt als erster Preisträger des Förderpreises Mortier Next Generation Award. Die historisch komplexe Vergangenheit, die sich in der Architektur der Spielstätten widerspiegelt, berührt mich stark – sowohl als Regisseur als auch als im Westen lebender Osteuropäer. Aus dieser Resonanz ist »Abendzauber« entstanden – eine begehbare Installation in der Mischanlage, Kokerei Zollverein. Diese Kreation eröffnet einen Dialog mit der Architektur, deren Errichtung einem Traum der Industrialisierung der Natur entspringt. Das Publikum steigt von der oberen Ebene immer weiter hinab in die Tiefen des Gebäudes, um auf jeder Ebene des Bauwerks den A-cappella-Klang von Chorwerk Ruhr zu erleben. Die Mischanlage wird zu einem Lautsprecher, der die Schwingungen der Stimmen überträgt und körperlich spürbar macht. Das Erlebnis ist durch Lichteffekte, Feuer, Nebel und Gerüche intensiviert. »Abendzauber« arbeitet mit dem Begriff der Transformation, in Analogie zum ursprünglichen Zweck des Gebäudes, das die Gestalt der Kohle veränderte: von der romantischen bis zur zeitgenössischen apokalyptischen Vision der Beziehung des Menschen zur Natur; von den weltlichen Chorwerken Anton Bruckners bis zu den Songs der isländischen Avant-Pop-Künstlerin Björk. Bruckner sah die Natur, ganz im Geiste der Romantik, als reinen geistigen Quell der Erneuerung. Sie war ein Ausweg aus den Dämpfen der wachsenden Industriezentren. Doch was sagt der Zustand der Natur über die Menschen im Zeitalter radikaler Klimaveränderungen und Naturkatastrophen aus?
Im Dialog mit der Architektur und Geschichte der Spielstätte – und zwischen den Gattungen entsteht auch die Tanzinstallation von Anne Teresa De Keersmaeker. Auf Einladung der Ruhrtriennale erforscht die belgische Tanzikone die Sammlung und die Architektur des Folkwang Museums in Essen. Der Titel »Y« steht für die Frage: »Warum?«. Die Choreografin setzt sich mit Werken von Künstlern wie Barnett Newman, Mark Rothko und Caspar David Friedrich auseinander, um die Spannung zwischen Figuration und Abstraktion durch die Linse des menschlichen Körpers zu erkunden. Das Publikum kann den Tänzer:innen durch den Raum folgen.
»Abendzauber« und »Y« bewegen sich zwischen Installation und Konzert, zwischen Museumsbesuch und Tanz-Performance, im Dialog mit der Architektur und auf der Suche nach neuen temporären Gemeinschaften. Die Konventionen infrage stellend, erforschen sie Mortiers Anliegen, die Gemeinschaft für Fragen des menschlichen Daseins zu sensibilisieren und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist. Und wie immer bei Mortier ist das Medium auch die Botschaft: Kreationen als Aufruf, politische Moden zu hinterfragen und als Metapher für eine neue Gesellschaft.
»Abendzauber«
23. bis 25. August
Mischanlage, Kokerei Zollverein, Essen
»Y«
17. August bis 8. September
Museum Folkwang, Essen