»Verliebte und Verrückte« nennt sie Theseus, Athens Fürst und Hochzeiter. Seine Gleichsetzung ist genährt von Skepsis gegenüber der Einbildungskraft dieser Infizierten. Hermia und Helena, Demetrius und Leander sind Ver-Rückte, exiliert aus Familie, Stadt und Gesellschaft, entrückt und Zuflucht nehmend im Wald als dem Gegen-Ort zu tagheller Vernunft und Ordnung. Ein Freiraum, ja, aber nicht gemacht für paradiesisches Unschuldsglück.
Barbara Freys mit dieser Saison endende Ruhrtriennale-Intendanz wird in die Festivalgeschichte eingehen als Projekt weiblicher Gleichheit vor der Kunst und Lizenz zu deren Befreiung. Dass Theseus und Oberon, Hippolyta und Titania als Herren und Herrinnen des Athener Hofs und der Fabelwelt ineinander changieren, liegt nahe. Frey geht weiter: In ihrer das Festival eröffnenden Inszenierung sind Theseus und Titania mit Markus Scheumann, Hippolyta und Oberon mit Sylvie Rohrer (gegengeschlechtlich) doppelbesetzt. Auch die Liebespaare, die Handwerker, das Elfenvolk haben ihre eigene, sonderbare Geschlechterordnung: Jeder Bart ist falsch, jede Eindeutigkeit besitzt Doppelgestalt.
Tag und Nacht, Realität und Traum, Wirklichkeit und Wunsch, Blindheit und Erkennen, Mann und Frau sind transitorisch angelegt. Elementares ist am Werk, wie es sich für diese ‚Komödie’ gehört, die von Liebes-Katastrophen, Verkehrtheit und Versehrtheit erzählt und zwei junge Paare und einige hohe und niedere Figuren (die Handwerker um Zettel) mehr in existentielle und emotionale Krisen bringt.
Natur auf der Flucht
In der Schwärze der gewaltigen Duisburger Kraftzentrale steht die Bühne von Martin Zehetgruber allein auf weiter Flur. Seine theatralen Installationen arbeiten nicht selten mit Zivilisationsmüll, Abfall, Schrott, Relikten unserer Zerstörungswut. Hier scheint auch die Natur selbst auf der Flucht. Mehrere Autos sind gestrandet, ihre Mobilität ist stillgelegt, die Wracks stecken halb versunken im Erdboden, aus dem spärlich ein paar Bäumchen wachsen. Dies ist kein Wald, sondern möblierte Psyche und überdachtes Unbehaustsein.
Außenwelt und Innenwelt geraten aneinander. Lange Schrecksekunden braucht es, bevor das Spiel beginnt, währenddessen in einem gläsernen Container Stimmen wispern, das Gerücht der einen über die anderen in Umlauf gerät und der Hof die Köpfe zusammensteckt. In Athen regieren Überwachen und Strafen. Auf dem Hinterhof des Gebäuderiegels steht der minimalisierte Wald, in dem der von Puck (Dorothee Hartinger als praktisch veranlagte, beiläufig agierende Beckett-Figur) angerichtete Irrlauf seine Runden zieht, so wie die Drehbühne kreist und kreist.
Leise Besonnenheit und schlichter Ernst, Herbheit und Beklommenheit liegen – motiviert auch von Josh Sneesbys Live-Musik, die das banal selige Easy Listening ebenso kennt wie den Schlag, der das Dies irae ankündigt – über dem gesamten Abend; selbst noch in den Handwerkerszenen, in denen keine Brüder Lustig holterdiepolter auftreten, sondern kittelgraue Zwischenwesen, zart wie die Elfen. Nichts wird breit ausgespielt. Freys Regie hält der Schwere stand, indem sie sie leicht wiegen lässt. Die unschuldige Koketterie der äußerlich mondänen Titania, wenn sie selbstverloren dem Esel Zettel (Oliver Nägele) schön tut, hat nichts Komisches, sondern rührt ans Innerste. Und wenn Theseus, der das Glück der jungen Paare betreten und wie peinlich berührt herbeiführt und so die Entzauberung proklamiert, mit seiner Braut Hippolyta der skurrilen Aufführung der Handwerker beiwohnt, sitzen die Beiden als verlorene Seelen wie auf einer von Edward Hopper gemalten Terrasse.
Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, der als Dichter und Denker der Frühromantik und Erkunder des Gemüts unter dem Namen Novalis berühmt wurde, war Zeitgenosse der Kollegen Schlegel / Tieck, die um 1800 mit der Übertragung der Shakespeare-Dramen ins Deutsche befasst waren (und auch Novalis’ Werk nach dessen Tod mit 28 Jahren herausgaben). Novalis sah im Theater die »tätige Reflexion des Menschen über sich selbst« erfüllt, als habe er seine Definition im Betrachten von Shakespeares Werk getroffen. Fügen wir den Spielimpuls – die Idee von Spiel, in dem Leben sich selbst versteht und zu sich selbst findet, sich auflöst und erlöst – hinzu, haben wir den Kontinent Shakespeare ein gutes Stück ausgemessen. Und kommen diesem »Sommernachtstraum« nahe. Zum Spiel gehört bei dem elisabethanischen Autor der Sonette und in unserer Gegenwart offener Geschlechtergrenzen und Transgender-Kongruenz, dass Identität sich verflüssigt. Freys Inszenierung hat die Formel dafür.
»Ein Sommernachtstraum«
11. bis 17. August