Alicja Kwade wird gerade praktisch überall auf der Welt gefeiert, wurde vom Kunstkompass der Zeitschrift Capital zu den hundert wichtigsten Gegenwartskünstler*innen gezählt und betreibt in Berlin-Oberschöneweide ein Studio mit über 20 Mitarbeiter*innen. Es ist also eine kleine Sensation, dass das Lehmbruck Museum Duisburg mit »In Agnosie« jetzt mit ihrer Beteiligung eine große Einzelausstellung zeigt.
Die Künstlerin durfte sich im gesamten Museumsbereich verwirklich, sogar im quasi heiligen vorderen Teil, der eigentlich den Skulpturen des namensgebenden Wilhelm Lehmbruck vorbehalten ist. »Selbstportrait als Geist« heißt die lebensgroße Skulptur, die sie dafür geschaffen hat. Es ist ein Bronze-Abguss der Künstlerin, die sich ein Tuch über den Körper geworfen hat. »Ich habe mir drei Bettlaken zusammennähen lassen und habe mich scannen lassen«, erklärt Alicja Kwade, die im Gespräch extrem uneitel wirkt und ihr Werk gern erklärt. Bis zur Entzauberung: Den Scan habe sie dann mit einem 3D-Drucker ausgedruckt und zur Skulptur gießen lassen.
Das Ergebnis ist ein Seitenhieb auf die weiblichen Akte von Wilhelm Lehmbruck, überhaupt die Körperlichkeit seiner Skulpturen, auch das Leidende, das Erdenschwere, das seine Figuren niederdrückt oder ausmergelt, vom Verschwinden bedroht. Auch eine große Portion des Humors der 42-Jährigen, den man im Prinzip in allen ihren Arbeiten finden kann, steckt hier drin: Die Künstlerin verhüllt ihren Körper, indem sie wie Kinder Gespenst spielt. Wie das kleine Gespenst, das mit 13 Schlüsseln durch die Burg Eulenstein spukt, und allerlei Unfug anrichtet, richtet sie gewohnte Blickachsen im Museum neu aus und regt mit ihren Interventionen dazu an, unseren Kunstkanon zu hinterfragen.
Das Museum hat deshalb in den Ankündigungstext geschrieben: »Für das Lehmbruck Museum entwirft Alicja Kwade eine Ausstellung, die uns die Augen öffnet für die Geschichte der Kunst – von Wilhelm Lehmbruck über den Surrealismus und die Minimal Art bis in unsere Gegenwart.«
Das »Selbstportrait als Geist« verrät noch etwas anderes über die Künstlerin: Ihre Kunst ist eine Kunst des Geistes, nicht des Körpers. Sie befragt die Wissenschaftsdisziplinen Physik, Philosophie oder Soziologie, um Antworten auf die großen Fragen zu finden. »Auch Religion schaue ich mir an, obwohl es da meistens schon zu viel an Antwort gibt«, sagt die im katholischen Polen aufgewachsene Künstlerin. »Man sollte da alles glauben. Es ist aber eine grundlegende Skepsis gegenüber Annahmen und Ansprüchen, die mich dazu gebracht hat, die Dinge verstehen und nachvollziehen zu wollen. Die hatte ich immer schon.«
Deshalb arbeitet sie viel mit diesen Annahmen, die sich die Wissenschaften über die Welt erarbeiten. Sie arbeitet mit 3D-Druckern, Assistenten, Handwerksbetrieben, selten selbst mit der Hand. Danach gefragt, schwingt überraschend eine Sehnsucht in ihrer Antwort: »Ich wünschte mir zutiefst, ich würde mich an einem Tonblock abarbeiten, das Genussvolle der künstlerischen Arbeit spüren. Das macht Spaß und ist eine der befriedigendsten Tätigkeiten. Dass noch mit geistiger Vision zu verbinden… Ich habe nur selten die Gelegenheit gehabt, das wirklich zu tun, selten ein Konzept, das dazu passte. Ich bin neidisch auf Künstler, die drauf loslegen, die das Selbstbewusstsein haben und sagen: Ich mach jetzt einfach. Ich denke, für mich müsste es einen guten Grund haben, und den hatte ich bisher noch nicht.«
Trotzdem haben ihre Werke eine faszinierende Körperlichkeit, die den Blick anzieht. Es gibt ganz grundlegende Materialien und Formen, zu denen sie immer wieder zurückfindet: Stein, Holz, Kugeln. Eine weitere Arbeit, die sich auf die kanonisierte Kunstgeschichte bezieht, ist ihre faszinierende Rauminstallation »Light Touch of Totality«. Sie ist im großen Fenstersaal an der Front des Museums aufgebaut, der vom umgebenden Park aus weithin einsehbar ist. Der Park heißt Immanuel-Kant-Park, und Alicja Kwade stellt die kantsche Frage: »Was kann ich wissen?«
Ringe aus poliertem Edelstahl und Vorhänge aus beschrifteten Holzperlen und Lapislazuli-Steinen geben einen imposanten Eindruck davon, wie wir uns die Welt und das All erschließen. Die Bahnen der Planeten, die großen Leerstellen zwischen allem, was wir sehen, messen und wissen (können), fallender Regen, eine moderne digitale Matrix oder ein historischer Abakus – all diese Assoziationen zünden bei der Betrachtung wie ein Feuerwerk.
Besonders spannend wirkt der Raum, weil die Künstlerin die stringente Ästhetik ihres Werks aufbricht durch kleine, archaisch anmutende Holzskulpturen. Die natürlich nicht handgeschnitzt sind, sondern durch eine Fräsmaschine bearbeitet. Aus einem dieser Stämme hat die Maschine eine Pfeife formen wollen, wurde aber im Prozess unterbrochen. Was ist das nun: Ein Baum oder eine Pfeife, halb Baum, halb Pfeife – beides seiner Funktion oder Natur beraubt? Die Künstlerin nennt ihre Skulptur: »cecin’estpasunepipececin’estpasunepipececin’estpasunepipe«. René Magritte lässt grüßen.
Der Wille zum Aufbrechen gewohnter Kunstanschauung, geschlossener Ästhetik, fester Annahmen und Glaubensätze durchzieht diese Schau »In Agnosie«. Agnosie bezeichnet als Krankheitsbild die Störung von Sinneswahrnehmungen oder ihre Interpretation. Alicja Kwade ist allerdings nicht auf die perfekte Sinnestäuschung aus. Wenn die Besucher*innen in der zum ersten Mal in Deutschland gezeigten Arbeit »Superheavy Skies« schwere Steine an Mobiles schweben sehen oder in »Between Glances« um ein Kabinett aus Spiegeln, Fenstern, leeren Rahmen kreisen und bald nicht mehr wissen, welche der darin stehenden Glühbirnen nun echt sind oder nur ein Spiegelbild, dann ist das Handwerk hinter der Illusion immer noch zu erkennen. Und stiftet trotz aller Verwirrung, die die Künstlerin gerne auslöst, auch ein aufklärerisches Moment – ein Moment der Entzauberung eben.
Alicja Kwade: In Agnosie
Lehmbruck Museum, Duisburg
bis 25. Februar 2024