Sigrun Brunsiek hat mit ihrem Mann Josef Spiegel im Lipperland ein Kleinod aus der Barockzeit renoviert: Im Wasserschloss Reelkirchen bringen sie Kunst zu den Menschen.
So ein riesiges Papierschiff hatte man auf der alten Gräfte wohl noch nie gesehen. Schon gar nicht mit dem Schlossherrn selbst an Bord. Es gibt historische Fotos von adrett gekleideten Frolleins, wie sie vor gut 100 Jahren in einem Boot rund um das Schloss Reelkirchen schipperten – Bewohnerinnen eines damaligen Mädchenpensionats. Ab dem Ende der 50er Jahre dann waren wohl immer mal wieder Mitglieder des Dortmunder Fischereivereins über den alten Wasserlauf gefahren. Aber der Schlossherr selbst, der in ein Boot aus Papier steigt? »Auf große Fahrt« hatte Frank Bölter seine Kunstaktion beim Sommerfest 2016 genannt, für das er mit den Gästen ein seetüchtiges Schiff faltete. In einem kleinen türkisfarbenen Heft hat Sigrun Brunsiek zusammengefasst, was vor und nach der Papierboot-Aktion noch so alles rund um das Wasserschloss Reelkirchen passierte: In einem Jahr hatte Stefan Demming eine Plantage aus aufblasbaren Früchten im Park installiert. In einem anderen das Theaterlabor Bielefeld mit geometrischen Formen im Park getanzt und der Künstler Jan Philip Scheibe ein riesiges Grünkohlkostüm bestiegen.
»Wasserschloss Reelkirchen« steht schlicht auf dem kleinen Heft, in dem Sigrun Brunsiek all diese Kunstaktionen beschrieben hat. Dabei müsste der einstige Adelssitz im Lipperland doch noch so viele weitere Namen tragen: Künstlerhaus oder Residenzort vielleicht, ganz sicher Denkmal, aber auch Ideenschmiede oder Möglichkeitsraum. »Utopia« hat die Künstlerin Käthe Wenzel auf ein gelbes Schild geschrieben und am Ufer der Gräfte installiert. Denn seit Sigrun Brunsiek und ihr Mann Josef Spiegel das alte Schloss vor neun Jahren kauften, hat die Kunst in Reelkirchen ein Zuhause gefunden. Ein Zuhause mitten auf dem Land und auf Zeit, denn genau genommen sind das barocke Herrenhaus, die umliegenden Wirtschaftsgebäude, die Gräfte, der Wald und der Park nichts anderes als ein riesiges Experimentierfeld.
Kunst auf Zeit
Wer über das 14.000 Quadratmeter große Gelände in der Nähe von Detmold streift, sucht zum Beispiel einen Skulpturenpark vergebens. Fest installierte Kunst? Gibt es hier nicht. »Vieles, was hier entsteht, ist erst mal nur für kurze Zeit gedacht«, sagt Sigrun Brunsiek, die mit ihrem Mann Künstler*innen aller Sparten auf das Schlossgelände einlädt. Zu Sommerfesten oder Veranstaltungsreihen, die immer anders sind und doch manches gemeinsam haben: Statt in regulären Ausstellungsräumen wird die Kunst oft an eher ungewöhnlichen Orten gezeigt. Vieles entsteht erst vor den Augen der Besucher*innen oder gleich mit ihnen zusammen. Und nicht immer ist das, was rund um das Wasserschloss oder auch mal an Orten in ganz Ostwestfalen zu erleben ist, auch gleich als Kunst zu erkennen: 2017 etwa war die Reihe »Geschmackssache« an den Start gegangen, die sich mit »Eat Art« beschäftigte. Sonja Alhäuser hatte daraufhin einen Rotweinbrunnen mit Figuren aus Buttercreme in den Schlosshof gestellt – ein Kunstwerk, das sich also ganz lebenspraktisch am Ende der Aktion aufessen ließ. Ein Jahr später dann ging es um »Freiraum Leerstand«, sozusagen um die positiven Seiten aufgegebener Ladengeschäfte: In einem Lokal in Blomberg richteten Samuel Treindl und Petra Spielhagen ein »Visionen-Entwicklungs-Büro« ein. »Unsere Aktionen richten sich nicht an ein spezielles Kunstpublikum, sondern an alle Menschen in der Region«, sagt Josef Spiegel. Und dann beginnt er zu erzählen, wie sie eigentlich zu diesem Wasserschloss kamen – mit all seinen Baustellen, Möglichkeiten und Ideen.
23 Jahre lang, von 1997 bis 2020, war er Geschäftsführer des Künstlerdorfs Schöppingen gewesen. Die Familie zog damals natürlich mit, Sigrun Brunsiek stieg in die Arbeit mit den Künstler*innen vor Ort ein – und hat seither mit ihrem Mann die unterschiedlichsten Initiativen und Formate entwickelt: Etwa die »Stadtbesetzung«, eine Reihe des Kultursekretariats Gütersloh, die Künstler*innen jedes Jahr Performances und Installationen im öffentlichen Raum ermöglicht. Oder »NRW Skulptur«, eine Plattform, die Kunst im öffentlichen Raum erklärt und sichtbar macht. Aus dem ehemaligen Gutshof in Schöppingen war in ihrer gemeinsamen Zeit erst eine Stiftung und schließlich eine internationale Stipendiatenstätte des Landes NRW geworden. 2020 dann ging Josef Spiegel in Rente – und hat sich mit dem Wasserschloss Reelkirchen nichts weniger als einen Lebenstraum erfüllt: ein eigenes Künstlerhaus mit seiner Frau zu gründen, in dem Kunst und Leben ganz selbstverständlich zusammengehen.
Tonstudio und Tapetenzimmer
Ein Residenz- und Stipendienprogramm wie in Schöppingen gibt es zwar (noch) nicht. Dennoch besteht die Schlossgemeinschaft, in der Sigrun Brunsiek und Josef Spiegel nun selbst seit einem Jahr mit ihren Kindern leben, aus elf Leuten. Einer von ihnen ist Felix Bes, der an diesem sonnigen Vormittag aus einem kleinen Holzhaus direkt an der Gräfte dumpfe Bässe über den Mühlengrund schickt: Auf der Suche nach einem ruhigen Ort zum Arbeiten hat der französische Musiker Baumaterial aus der alten Schmiede recycelt, die gerade zu einem barrierefreien Veranstaltungsraum, Café und Gästehaus umgebaut wird, und Reelkirchens erstes Tonstudio gebaut. Neben ihm leben noch der Musiker Eckhard Naujoks oder die Professorin Vera Lossau auf dem Gelände, die plastisches und räumliches Gestalten an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe lehrt. Genutzt wird die erste Schlossetage vom »Verein zur Erhaltung und kulturellen Nutzung des Wasserschlosses Reelkirchen«, den Sigrun Brunsiek und Josef Spiegel gleich nach dem Kauf mitgründeten – hier gibt es auch zwei ganz besondere Räume zu entdecken: Um 1810 hatten die Schlossbesitzer ein Tapetenzimmer eingerichtet, mit Szenen einer idealtypischen Hafenstadt in Grautönen, die entfernt an Venedig erinnert. Vor kurzem dann kam sozusagen die künstlerische Antwort darauf von Patricia Lambertus hinzu: Die Bremer Künstlerin montierte aus neuen und alten Szenen eine Tapetenszenerie, auf der historische Fotos, ideale Landschaften und verblüffende Augentäuschungen zusammengehen.
Zwei herausragende Zimmer im ansonsten so schlicht-schönen Herrenhaus – dabei war das 800-Seelen-Dorf Reelkirchen in der Kunstgeschichte des Lipperlandes lange Zeit eher ein weißer Fleck gewesen. Selbst das Wasserschloss hatte bis 2013 im Dorfleben keine große Rolle gespielt, weil es die Familie von Mengersen über Jahrzehnte leer stehen ließ. Bis es plötzlich in einem Immobilienportal auftauchte. »Ich habe sofort einen Besichtigungstermin ausgemacht, schon allein, um das Herrenhaus wenigstens einmal von innen zu sehen«, erinnert sich Sigrun Brunsiek. Denn nur zwei Kilometer vom Wasserschloss entfernt war sie auf einem Hof groß geworden, in Reelkirchen zur Grundschule gegangen und schon als Kind auf dem verlassenen Schlossgelände umhergestreift.
2013 war das Schloss stark sanierungsbedürftig. »Allerdings war auch noch nichts kaputtrenoviert worden«, erinnert sich Sigrun Brunsiek. Das Treppenhaus und viele Einbauten des Herrenhauses stammen noch aus der Bauzeit von 1755. Den »Mühlenbruch« in Reelkirchen hatte 1523 Hermann VIII. von Mengersen vom Bischof zu Paderborn als Lehen bekommen. Er ließ eine Zehntscheune bauen, deren Torbalken noch im östlichen Bogen des heutigen Torhauses erhalten ist. Katharina von Mengersen (1712-1775) ließ dann das heutige Herrenhaus errichten, das in seiner Geschichte schon so vieles war: um die Jahrhundertwende ein »Töchterpensionat«, ab 1944 die Patentabteilung der »Ruhrchemie«, die aus Sorge vor Bombenangriffen von Oberhausen nach Reelkirchen zog. Ab 1945 dann der Sitz des »Secret Service« und schließlich der niederländischen Militärpolizei.
Noch während das Schloss saniert wurde, hatten Josef Spiegel und Sigrun Brunsiker erste Veranstaltungen in Reelkirchen organisiert. In der Corona-Zeit war dann das Konzept von Lichtkunstspaziergängen entstanden, für die Künstler*innen ortsbezogene Projektionen, Hologramme und Installationen entwickelten. Nikola Dicke zeichnete mit Licht auf die noch eingerüstete Fassade des Herrenhauses, während Yvonne Goulbier das historische Tapetenzimmer mit »Nymhea Lucida« in einer eindrücklichen Schwarzlicht-Installation verschwinden ließ. »Kunst ist ein offenes Denksystem, abseits von Funktionalitäten und Kosten-Nutzen-Kalkulationen«, sagt Josef Spiegel. Und dennoch war die Sanierung und der Ausbau des Wasserschlosses natürlich nur durch Fördermittel möglich – etwa der Stiftung Denkmalschutz. Das Projekt der beiden ist außerdem Teil des Strukturentwicklungsprogramms »UrbanLand Ostwestfalen-Lippe« und mehrfach ausgezeichnet worden – etwa als »Creative Space« des Kompetenzzentrums Kreativwirtschaft.
Zeitreise per Handy
Das Wasserschloss liegt nur wenige Kilometer vom Hermannsweg entfernt, der als einer der schönsten Höhenwege Deutschlands gilt und 156 Kilometer lang über den Kamm des Teutoburger Waldes läuft. In letzter Zeit kämen immer mehr »Besichtiger« vorbei, erzählt Sigrun Brunsiek. Auch für sie wurde erst kürzlich eine App entwickelt: Mit dem Handy kann man einen Audio Walk, eine einstündige Zeitreise mitmachen – vom Wasserschloss aus die Straße hinauf in Richtung romanischer Dorfkirche, zur jahrhundertealten Linde und zu einem Kleinod der ganz anderen Art: Zweimal in der Woche hat noch der kleine 70er-Jahre-Edeka am Ortsrand geöffnet, einmal in der Woche Reelkirchens Dorfkneipe, in der sich seit Jahrzehnten nichts, wirklich gar nichts verändert hat. Die Jukebox, der Zigarettenautomat, die 50er-Jahre-Theke mitsamt der Plastikblumensträußchen auf den Tischen, das Fanta-Schild – alles ist noch da. Und davon bedroht, eines Tages doch zu verschwinden – als einer der letzten Treffpunkte, einer der letzten »dritten Orte« in der Region, die gerade im ländlichen Raum doch so wichtig sind.
Auch der Umbau der Torgebäude in einen Veranstaltungsraum, in ein Gästezimmer und Café werden gerade mit Mitteln des Förderprogramms für »dritte Orte« des Kulturministeriums saniert, das »Häuser für Kultur und Begegnung im ländlichen Raum« fördert. Der Begriff »Dritte Orte« stammt von Ray Oldenburg, der in seinem 1989 erschienenen Buch »The Great Good Place« Räume beschrieb, an denen sich Menschen »regelmäßig, freiwillig und informell« begegnen, sich wie in einem zweiten Wohnzimmer willkommen fühlen – abseits ihres »ersten Ortes«, dem eigenen Zuhause, und des zweiten, ihrer Arbeitsstelle. Die Idee dazu war dem US-amerikanischen Soziologen nach einem Umzug in den »unglaublich ruhigen Vorort« Pensacola in Florida gekommen. Da es dort keine öffentlichen Treffpunkte gab, bewirtete Oldenburg zweimal in der Woche seine Freunde und Nachbarn selbst – in einer umgebauten Garage.
»Wir grübeln tatsächlich darüber nach, was aus der Kneipe und dem Laden daneben werden könnte«, sagt Sigrun Brunsiek – ein Gästehaus? Dazu könnte man einen Genossenschaftsladen einrichten und natürlich die Kneipe weiterführen – wenn ein solches Vorhaben nicht Hunderttausende kosten würde. So ganz los lässt die beiden das wunderbare alte Ensemble mit der Kneipe und dem benachbarten Kolonialwarenladen von 1890 (!) aber wohl nicht – erst vor kurzem hat eine Künstlerin hier auf ihre Einladung hin Videos gezeigt: Cornelia Rößler zeigte auf den schon blinden Fenstern des alten Geschäfts die Geschichten eines Vaters und einer Tochter. Geschichten, die von eigenen Lebenswegen erzählten. Aber auch von Gemeinschaft. Und von Orten, die man manchmal verlassen muss, um sie mit anderen Augen zu sehen. Und um umso zu ihnen zurückzukehren.
Auf dem Wasserschloss Reelkirchen wird am 10. Juli 2022 ein Sommerfest gefeiert.
Der nächste Lichtkunstspaziergang findet vom 29. September bis 1. Oktober 2022 statt: wasserschloss-reelkirchen.de
Der Audio Walk durch Reelkirchen findet sich hier: geomazing.com/reelkirchen