Interview: Andrej Klahn
»Yyyyyyyyves« riefen die im Parkstadion zu Tausenden versammelten Freunde von Schalke 04 nicht selten, wenn der gebürtige Mindener Yves Eigenrauch (34) dort auflief. Tore schoss er nur wenige, seine Aufgabe war es, die des Gegners zu verhindern. Yves Eigenrauch war »Kult« auf Schalke. Auch wenn er selbst mit dem Begriff wenig anfangen kann. Zwölf Jahre gehörte er zum Kader des Gelsenkirchener Bundesligavereins, gewann mit seinen »Eurofighter« genannten Kollegen 1997 den UEFA-Cup, stand kurz vor dem Sprung in die deutsche Nationalmannschaft und wurde außerhalb der Fußball-Welt als der »etwas andere Bundesligaprofi« bekannt. Der brasilianische »Wunderstürmer« Ronaldo sah gegen ihn keine Schnitte. Bolzgehabe liegt Yves Eigenrauch aber denkbar fern. Als WM-Kolumnist 2002 ließ er wissen, dass es ihn nicht wundern würde, wenn er das Endspiel verpasste, weil neunzig Minuten Fernsehen unheimlich lang sein können.
Zwei Halbzeiten plus Nachspiel dauert das Fußballoratorium »Die Tiefe des Raumes« von Moritz Eggert und Michael Klaus, das als Auftragswerk der RuhrTriennale in der Jahrhunderthalle uraufgeführt wird. Ein aus Spieler- und Trainerzitaten, Fangesängen und literarischen Anspielungen montiertes Werk, in dem selbstverständlich dem talentierten jungen Spieler die Hauptrolle zukommt, an seiner Seite aber auch die personifizierte Tugend genauso wie das Laster mitmischen. Bevor das Stück am 11. September angepfiffen wird, erklärt uns Yves Eigenrauch, wie viel Kunstsinn sich ein Fußballer leisten kann. Nachfolgend ein paar Informationen zum Spiel an sich und allem, was sonst noch dazu gehört – deutsche Sekundärtugenden zum Beispiel.
K.WEST: Erkennt man den Charakter einer Mannschaft an der Unaufgeräumtheit des Mannschaftsbusses nach der Fahrt zum Auswärtsspiel?
EIGENRAUCH: Klar. Das ist wie auf Partys. Wie benehmen sich die Gäste, nehmen sie ihren Müll mit, oder schmeißen sie ihn unter den Sitz, weil es ja irgendeinen Deppen gibt, der das alles hinterher wieder saubermachen muss.
K.WEST: Der Eindruck lässt sich dann auf die Spielweise übertragen?
EIGENRAUCH: Vielleicht mit der Einschränkung, dass man im Bus nicht so unter Beobachtung steht wie auf dem Spielfeld. Im Bus fehlen natürlich auch die Anweisungen, die man vor und während des Spiels vom Trainer bekommt.
K.WEST: Aber es gibt Trainer, die auch Regeln für das Verhalten außerhalb des Spielfeldes geben?
EIGENRAUCH: Das hängt natürlich davon ab, ob der Trainer der Meinung ist, dass sich die Mannschaft selbst regulieren muss oder nicht. Spätestens dann, wenn der Busfahrer fünf Stunden braucht, um den zugesauten Bus aufzuräumen, könnte es eine klare Ansprache geben.
K.WEST: Muss erwachsenen Profis so etwas denn gesagt werden?
EIGENRAUCH: Die Frage ist doch nicht, ob man es erwachsenen Profis sagen muss, sondern ob man es erwachsenen Menschen beibringen muss. Gehen Sie mal auf öffentliche Toiletten. Da sieht es aus wie es aussieht, weil sich alle sagen: Irgend jemand wird das schon saubermachen. Es geht bei dieser Frage um bewusstes Leben.
K.WEST: Nicht darum, vermeintlich deutsche Sekundärtugenden schon außerhalb des Platzes einzuüben?
EIGENRAUCH: Kann man die üben?
K.WEST: Wozu sonst das Machtwort im Mannschaftsbus?
EIGENRAUCH: Ich bin mir nicht sicher, ob sich durch Ermahnungen eine grundsätzliche Veränderung der Verhaltensmuster erzielen lässt.
K.WEST: Spielen diese vermeintlichen Sekundärtugenden im Fußball noch eine große Rolle?
EIGENRAUCH: Solche Tugenden sind immer dann gefragt, wenn mehrere Menschen an einer Sache arbeiten. Das ist in Unternehmen genauso. In Projektgruppen muss es Spielregeln und jemanden geben, der die Gesamtverantwortung trägt. Mit Anarchie funktioniert das nicht.
K.WEST: Es überrascht mich, wie wenig man seinen hochbezahlten Angestellten zutraut, selbst zu bestimmen, welche Freizeitgewohnheiten mit ihrem Job als Profi kompatibel sind. Sie verdanken beispielsweise ihr Debüt dem Umstand, dass drei ihrer damaligen Mitspieler zur falschen Zeit Backgammon gespielt haben. Warum darf ein Fußballspieler nicht Backgammon spielen?
EIGENRAUCH: Jeder Trainer hat eine bestimmte Philosophie. Die meines damaligen Trainers besagte, dass Spieler sich zwei Stunden vor einem Spiel auf den Fußball konzentrieren und ihre Mittagsruhe zum Ruhen und nicht zum Spielen nutzen sollten. Ob das richtig ist oder nicht, wird sich endgültig niemals feststellen lassen. Messen lässt sich das vielleicht am Erfolg.
K.WEST: Ist es nicht egal, was ein Sportler in seiner Freizeit macht, solange er Leistung bringt, wenn er gefordert wird?
EIGENRAUCH: Wenn jeder macht, was er will, sind wir wieder bei den schmuddeligen Toiletten.
K.WEST: Aber es ist doch etwas anderes, ob ich eine öffentliche Toilette verschmutze oder ob ein Fußballprofi nachts spät ins Bett geht, weil er vielleicht noch Lust auf ein Bier hat?
EIGENRAUCH: Das sehe ich nicht so. Regeln sollten respektiert werden.
K.WEST: Dann gibt es keinen Unterschied zwischen sinnvollen Verboten und solchen, die um ihrer selbst willen aufgestellt werden?
EIGENRAUCH: Man kann alles hinterfragen, sollte aber auch akzeptieren, dass diejenigen, die Verantwortung tragen, sagen dürfen, wie es gemacht werden soll.
K.WEST: Ist der Unterordnungsgedanke im Fußball dominanter als anderswo?
EIGENRAUCH: Das war früher wohl so. Heute scheinen die meisten Spieler vom Intellekt weiter als vor fünfzehn Jahren. Auch scheint mir der diktatorische Geist nicht mehr so ausgeprägt zu sein, Profis werden mehr als mündige Erwachsene behandelt. Sie haben vielleicht kein Mitspracherecht, doch lassen sie sich nicht unbegründet sagen: So wird’s gemacht.
K.WEST: Entscheidungen werden ausdiskutiert?
EIGENRAUCH: Nein, zumindest nicht zu meiner Zeit. Aufgeregt haben wir uns manchmal, ja. Unser Trainer Huub Stevens zum Beispiel hat großen Wert darauf gelegt, dass alle Spieler gleich gekleidet sind. Das ging so weit, dass wir alle die gleichen Socken tragen mussten, bis hin zur identischen Modellreihe. Darüber wurden Scherze gemacht, aber wirklich diskutiert wurden solche Entscheidungen nicht.
K.WEST: Die Erklärung dafür war, …
EIGENRAUCH: … dass es das Gemeinschaftsgefüge stärken würde, wenn alle Spieler Socken einer Modellreihe tragen. Davon kann man halten, was man will. Wenn der Trainer der Meinung ist, dass er damit Erfolg hat, muss ich es als Spieler akzeptieren, zum Tennis oder zum Golf wechseln oder ganz aufhören mit dem Sport.
K.WEST: Ist Mündigkeit für einen Profi karriereschädigend? Kritik wird sehr häufig mit Nestbeschmutzung verwechselt.
EIGENRAUCH: Das ist in Unternehmen auch so.
K.WEST: Nun gibt es aber auch eine Unternehmenskultur, die auf flache Hierarchien setzt und darauf, dass sich die Mitarbeiter maximal und vor allem auch kritisierend einbringen. Das ist im Fußball doch verpönt.
EIGENRAUCH: Verpönt ist es nur, öffentlich kritische Positionen zu beziehen. Intern ist das möglich, da werden alle gehört. Wenn man Glück hat, wird auch das ein oder andere Mal drüber nachgedacht, was man zu sagen hat.
K.WEST: Verlangt das Geschäft heute mehr Anpassung?
EIGENRAUCH: Ich verfolge Fußball nicht so sehr. Das habe ich früher auch nicht gemacht. Von dem, was ich mitbekomme, würde ich sagen: Ja. Es gibt wohl immer weniger Charaktere, weniger Profis mit Marotten. Die Masse wird gleichförmiger, bildet für kurze Zeit Zweckgemeinschaften. Offenheit und Direktheit sehe ich seltener. Wenn es sie gibt, gibt es die Tendenz, über die Stränge zu schlagen. Mir kommt das ein bisschen divenhaft vor.
K.WEST: Sie haben wiederholt erklärt, dass Ihnen gesteigerte Formen von Lokalpatriotismus fremd sind und Ihnen Fußball beileibe nicht alles ist. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie in Gelsenkirchen Kultstatus erlangt haben?
EIGENRAUCH: Der Begriff »Kult« ist in diesem Zusammenhang sehr leichtfertig gebraucht. Dass mir hier eine überproportionale Sympathie entgegengebracht wurde, liegt wahrscheinlich daran, dass die Leute auf dem Platz gesehen haben, dass ich mich bemüht habe, auch wenn die Qualität nicht immer da war. Engagement wird nicht nur in Gelsenkirchen und im Ruhrgebiet grundsätzlich honoriert.
K.WEST: Eigentlich sollte man doch davon ausgehen können, dass dieses Engagement bei jedem Spieler da ist, oder nicht?
EIGENRAUCH: Grundsätzlich würde ich davon auch ausgehen wollen, doch es gibt Engagement und Engagement. Natürlich möchte jeder zum Erfolg beitragen, aber in aussichtslosen Situationen kommt das bei dem ein oder anderen anders rüber.
K.WEST: Haben Sie sich in ihrer aktiven Zeit mit dem Verein und den Fans verbunden gefühlt?
EIGENRAUCH: Ich möchte den Spielern, die so etwas sagen, nicht zu nahe treten, aber ich halte es häufig für Heuchelei. Natürlich gibt es eine gewisse Verbundenheit mit dem Umfeld, auch weil ich als Profi weiß, dass der Verein sich zum Teil über die Eintrittsgelder seiner Anhänger finanziert.
K.WEST: Im Zusammenhang mit Ihnen fällt gelegentlich der Begriff „Feingeist“. Haben Feingeister es schwerer, sich im Fußball durchzusetzen?
EIGENRAUCH: Der Begriff ist ein bisschen abstrakt …
K.WEST: … kunstsinnig …
EIGENRAUCH: Das ist besser. Ein solches Interesse fällt in diesem Kontext sicherlich ein bisschen auf. Vielleicht berichten die Medien auch deshalb gern drüber. Dennoch glaube ich nicht, dass ich es dadurch schwerer gehabt habe als andere. Natürlich wurde ich am Anfang ein bisschen beargwöhnt, als ich nicht Karten mitspielen wollte, japanische Literatur las, oder weil ich keine Designer-Kleidung trage und meine Kleidung gern im Second HandLaden kaufe. Sobald die Mitspieler aber registrieren, dass es nicht gekünstelt ist, wird es akzeptiert.
K.WEST: Ihr damaliger Manager bei Schalke 04, Rudi Assauer, soll gesagt haben: »Das Wort ›mental‹ gab es in meiner aktiven Zeit als Fußballer gar nicht. Es gab nur eine Zahnpasta, die so hieß.« Dass lässt vermuten, dass ein Profi idealer Weise zu funktionieren hat, ohne sich Gedanken zu machen über Dinge außerhalb des Spielfeldes?
EIGENRAUCH: Wenn er das täte, wüsste er ja, wie banal ein Fußballspiel eigentlich ist. Man sollte den Begriff »Spiel« nicht vergessen. Wenn ich aber hinterfrage, warum dieser Druck erzeugt werden muss, warum es so wichtig ist, zu gewinnen und in welchem System ich mich aufhalte, dann wird dieser Betrieb komisch.
K.WEST: Wie öde ist das Leben als Fußballprofi?
EIGENRAUCH: Es kann, abhängig vom Charakter, sehr einschränkend sein. Als öde habe ich es aber nie empfunden, weil ich sehr viele neue Eindrücke habe sammeln können. Wenn man es aber nicht mag, häufig angesprochen zu werden, ist es nicht immer angenehm. Ich konnte nicht ins Theater gehen, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, nicht zwei Stunden in Ruhe im Freibad liegen, ohne dass jemand gekommen ist, um ein Schwätzchen zu halten oder ein Autogramm wollte. Ich freue mich natürlich, dass ich den Leuten mit so einfachen Mitteln eine Freude machen kann. Aber es ist manchmal belastend.
K.WEST: Wird Fußball zu wichtig genommen?
EIGENRAUCH: Grundsätzlich: ja. Schaue ich mir die Entwicklung des Fußballs an, muss ich feststellen, dass er nicht zu wichtig genommen wird, sondern dass er tatsächlich sehr wichtig ist. Für die Wirtschaft, für die Bevölkerung ist er von sehr großer Bedeutung. Für viele Menschen ist die Bindung zum Verein existentiell. Der Besuch eines Spiels ist für sie eine Art Kurzurlaub. Wenn ich nichts oder nur wenig anderes habe, in dem ich aufgehen kann und bei einem Verein Halt finde, alle zwei Wochen im Stadion Menschen treffe, mit denen ich mich wohl fühle und in der anonymen Masse alles raus lassen kann, was sich während der Woche aufgestaut hat, dann ist das eine Art von Erholung.
»Die Tiefe des Raumes«, Premiere 11.9.2005, Jahrunderthalle Bochum. Weitere Vorstellung am 18.9.2005. Ticket Hotline: 0700.20 02 34 56; www.ruhrtriennale.de