Wie kann solche Sphärenmusik aus menschlichen Kehlen tönen? Sind sie noch von dieser Welt, die fremdartig betörenden Stimmen, schwebend durch Zeit und Raum? Harmonien lösen sich von jeder Bindung. Klangflächen fließen im Zeitlupentempo ineinander. Alles driftet in imaginäre Unendlichkeit. Der Sopran schwingt sich zu Eiseshöhen auf und erstarrt, wie gefroren in einer Zone tödlicher Schönheit. Als wolle er nie wieder ins Irdische.
15. November 2002. Das noch junge ChorWerk Ruhr, das gerade dabei ist, sich als vokales Spitzenensemble des Landes zu etablieren, singt im damals brandneuen Konzerthaus Dortmund das berühmte »Lux aeterna« des Ungarn György Ligeti. Das Stück formuliert die Bitte um Ruhe für die Toten, eine Beschwörung ewigen Lichts. 1966 für 16 Stimmen ohne instrumentale Begleitung geschrieben, verwendete Stanley Kubrick das Werk zwei Jahre später in seiner Science-Fiction-»2001: Odyssee im Weltraum«.
Für Menschen, die hoch hinaus wollen, liefert Ligetis Meisterwerk offenbar die rechte Musik. Das ChorWerk Ruhr war von Beginn an eine ambitionierte Idee. Erwünscht zur Unterstützung der Ruhrtriennale und als Botschafter der Region, wurde es 1999 als Projekt der regionalen Kulturpolitik von der Landesregierung mit einem Finanzvolumen ausgestattet, das sich mit dem renommierten Stuttgarter Kammerchor oder dem Balthasar Neumann Ensemble vergleichen lässt. Geschaffen wurde indes kein festes Ensemble, sondern vielmehr eine Kartei von 100 bis 150 exzellenten Sängern, die sich für jedes Programm neu zusammenstellen lassen. Diese offene Struktur führte zum Streit und schließlich zum Bruch mit dem angesehenen Dirigenten und Chorleiter Frieder Bernius, der das ChorWerk in den ersten fünf Jahren zur Elite formte. Er wehrte sich gegen die Anzahl von Gastdirigaten, die der Projektleitung in Gelsenkirchen für eine flexible Institution sinnvoll schien, und schied im Jahr 2003 mit dem Gefühl, man wolle ihm ein wertvolles Instrument entwenden, das er selbst bauen half.
Gleichwohl hielten Koryphäen wie Reinhard Goebel, Peter Neumann, Robin Gritton und Sylvain Cambreling das ChorWerk Ruhr in der Folge auf Erfolgskurs. Es arbeitete mit Orchestern wie Musiqua Antiqua, Concerto Köln, Ensemble Resonanz, Ensemble Modern und musikFabrik NRW und trat auch bundesweit in Erscheinung, etwa beim Staatsakt zum 60-jährigen Bestehen der Bundesrepublik in Berlin. Seit der österreichische Komponist, Dirigent und Performancekünstler Rupert Huber 2008 als künstlerischer Leiter gewonnen wurde, verschob sich der Schwerpunkt zur zeitgenössischen und experimentellen Musik. Stets auf der Suche nach einem »authentischen Gesang«, studierte Huber in Nepal die Wirkung der Heilgesänge von Schamanen. Mit dem ChorWerk erforschte er so genannte Kontakt- und Resonanzgesänge: In diese Kategorien fallen ein Dunkelkonzert im Berliner Radialsystem und ein Sonnenaufgangskonzert frühmorgens im Nordsternpark Gelsenkirchen.
Mit deutlichem Unbehagen spricht Huber über den »erfolgsorientierten Musikbetrieb«. Ganz entziehen kann er sich ihm freilich nicht. Für die Ruhrtriennale studierte er Schönbergs Oper »Moses und Aron« ein, inszeniert von Willy Decker, die nicht zuletzt Dank der Chorleistung Anerkennung errang. Unvergessen ihr Tanz um das goldene Kalb, ihr Schwanken zwischen Zweifel und Exzess, das den Abend in der Bochumer Jahrhunderthalle mit Dramatik auflud. In Deckers aktuell letztem Jahr als Triennale-Chef folgt dem relativ geringen Chor-Anteil in Wagners »Tristan und Isolde« noch ein Konzert im Gasometer Oberhausen, das Werke von John Cage mit der Uraufführung eines Stücks von Robert Moran kombiniert: »Buddha goes to Bayreuth« entstand im Auftrag des ChorWerks Ruhr.
Während am 11. September die Welt des Terroranschlags auf das World Trade Center gedenkt, flutet durch den Kammermusiksaal der Folkwang Universität Musik. Das ChorWerk Ruhr probt für die Uraufführung, zu der auch Moran erwartet wird. Leicht ist sein Werk für zwei Chöre und zwei Streichorchester wahrlich nicht. Schier endlos müssen die Choristen Töne und Akkorde halten. Ihre genaue Dauer hat der Komponist nicht notiert. Jede Seite der Partitur soll etwa 60 Sekunden in Anspruch nehmen. »Die Musik ist sehr abstrakt. Alles muss auf Zeichen des Dirigenten geschehen«, sagt ein Sänger in der Pause. Nie wisse man genau, ob der Atem noch bis zum Ende einer Note reicht oder ob ein Zwischenatmen nötig wird. Auch die Vorbereitung auf den nächsten Einsatz falle schwer. Trotzdem klingen die Harmonien wieder verblüffend körperlos, den Gesetzen der Materie enthoben. Huber lauscht in das ätherische Schweben, korrigiert die Intonation, barfuss am Flügel sitzend.
»Sabbe satta avvera hontu. Sabbe satta abyapajjha«, singt der Chor den Sanskrit-Text eines Mantras: »Mögen alle Wesen frei sein von Feindschaft und Gefahr. Mögen alle Wesen frei sein von seelischem Leiden.«. Und doch klingen an diesem Nachmittag auch einige bittere Noten an. Nach drei intensiven Jahren steht nun auch Rupert Huber die Trennung vom ChorWerk Ruhr bevor. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er die Nicht-Verlängerung des Vertrags als Desinteresse an seiner experimentellen Arbeit empfindet, und beklagt das »Fehlen von Kommunikation«. Andererseits warten genug Aufgaben auf den ehemaligen Chordirektor der Salzburger Festspiele, zum Beispiel an der Bayerischen Akademie und in Donaueschingen. Bereits im November wird Florian Helgath die Leitung des ChorWerks Ruhr übernehmen. Geboren in Regensburg und ausgebildet in München, leitet er derzeit den Dänischen Rundfunkchor und den Via Nova Chor München, mit dem er zahlreiche Uraufführungen dirigiert hat und nationale wie internationale Preise errang.
Am 9. Oktober 2011 wird in einem streng festgelegten Ritual das Mandala zerstört, das Mönche aus Buthan aus heiligem Sand in die Jahrhunderthalle Bochum streuen. Damit endet Willy Deckers Festival. Das ChorWerk Ruhr stimmt dazu noch einmal Ligetis »Lux aeterna« an, letztmalig mit Rupert Huber.
Ruhrtriennale-Konzerte mit dem ChorWerk Ruhr: »Buddha goes to Bayreuth«, Gasometer Oberhausen, 1. und 2. Okt. 2011; »Die Streuung des Mandala«, Jahrhundert-halle Bochum: 1. bis 9. Okt. 2011; www.ruhrtriennale.de