Ruhrtriennale: Leoš Janáčeks letzte Oper »Aus einem Totenhaus« inszeniert der aus Moskau stammende Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov.
»Jahrhunderthalle« ‒ der Name der einstigen Gaskraftzentrale und Gebläemaschinenhalle des Montankonzerns »Bochumer Verein« erinnert an den ersten ›Auftritt‹ der Halle bei der Düsseldorfer Industrieausstellung im Jahr 1902; später wurde die Halle nach Bochum transferiert und hundert Jahre danach für die Ruhrtriennale zu ihrer Herzkammer mit lichtem Foyer um- und aufgerüstet. Man kann die heroische Geschichte von Technik und Fortschritt, die sich im Namen Jahrhunderthalle verklärt, auch anders lesen: als Geschichte eines kapitalistischen Systems, das Wenige reich gemacht und die Vielen unter problematischen Arbeitsbedingungen gesundheitlich und sozial ausgebeutet hat. Wenn in dieser Festivalsaison gerade an diesem Ort Leoš Janáčeks Oper »Z mrtvého domu« (»Aus einem Toten- haus«) gezeigt wird, wirft das nicht nur ein düsteres Licht auf die condition humaine in russischen Straflagern, sondern auch auf die alltägliche kollektive Leidensgeschichte in unserer westlichen Welt.
»In jeder Kreatur ein Funke Gottes« – dieses Lebens- und Schaffensmotto von Leoš Janáček hat sich in keinem Werk so ergreifend und utopisch erfüllt wie in seiner letzten Oper, die bei seinem Tod im August 1928 noch nicht ganz vollendet war. In keinem seiner Bühnenwerke ist Janáček so radikal vorgegangen wie im »Totenhaus«, das auf Fjodor Dostojewskis autobiografischen »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« basiert. In einer Mischung aus Dichtung und dokumentarischer Erinnerung an seine Zeit als politischer Gefangener in Sibirien (1849-1859) schildert Dostojewski aus der Perspektive des Gefangenen Gorjančikov das harte, hoffnungslose Zuchthausleben, das für den Schriftsteller zur Metapher der zaristischen Gesellschaft wurde.
Männeroper ohne echte Helden
Die Fülle der Episoden und Personen konzentriert Janáček in seinem Werk auf wenige »Leitfiguren«, ohne dass es operntypische Protagonisten oder eine dramatisch-logische Handlung gäbe. »Das Ergebnis«, so Barbara Eckle, die Musiktheater-Dramaturgin des Festivals, »ist eine reine Männeroper ohne wirkliche Helden. Es gibt Schwerverbrecher, politische Gefangene oder Landstreicher, die hier zusammengepfercht sind und ihre Geschichten erzählen. Janáček bringt es fertig, für diese Desperados, auch über seine Musik, tiefe Empathie aufzubringen – gemäß dem Motto des Funken Gottes in jeder Kreatur, das der Oper vorangestellt ist.« Eine Empathie, so möchte man hinzufügen, welche den Industriebaronen der Gründerzeit oder den Putins dieser Welt vor allem als Gefährdung eines wie geschmiert funktionierenden Machtsystems erscheint.
Die Inszenierung ohne Identifikationsfiguren, aber mit zutiefst humanistischem Anspruch übernimmt der aus Moskau stammende Dmitri Tcherniakov ‒ ein vielbeschäftigter Regisseur und Bühnenbildner, der zuletzt in München Sergej Prokofjews Oper »Krieg und Frieden« mit deutlichen Anspielungen an die Kriegssituation in der Ukraine auf die Bühne brachte. Barbara Eckle erkennt das Prinzip des Regisseurs bei Janáčeks ›Totenhaus‹: die Figuren des Stücks und das Publikum in eine provokante Nähe zu rücken.
»Deshalb will Tcherniakov in der Jahrhunderthalle auch keine traditionelle Guckkastenoper inszenieren, das erschiene ihm bei Janáčeks ›Totenhaus‹ sinnlos. Das Publikum betrachtet das Geschehen nicht frontal auf einer Bühne, sondern begibt sich selbst in ein riesiges Gefängnis ‒ eine Art Alcatraz mit verschiedenen Geschossen, wo man mit den Darstellern auf der unteren Fläche steht oder von den Galerien aus den Beobachtungsposten einnimmt. Es gibt nur diesen Innenraum: Das Publikum bewegt sich zwischen Gefängnishöfen, ist dem Alltag der Häftlinge ausgesetzt, erlebt Prügeleien, die in der Aufführung von Stunt-Künstlern angezettelt werden. Man soll hautnah spüren, wie es ist, wenn man für kleinste Dinge sofort von Mithäftlingen oder den Aufsehern bestraft und gedemütigt wird – wie es ist, wenn ein Tag wie der andere in dieser Atmosphäre der Angst abläuft.«
Minimalistisches Webmuster der Musik
Das klingt nach krassem Naturalismus; indes stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Kunst überhaupt totale Entindividualisierung wie die einer Lagersituation darzustellen und fühlbar zu machen vermag? Barbara Eckle hat sich im Vorfeld über das Phänomen der Traumatisierung in Ausnahmesituationen mit der bundesweit tätigen Forensischen Psychiaterin Nahlah Saimeh unterhalten. Es gebe »Lebensumstände«, so sagt Saimeh, »die es extrem schwer machen, durchgängig gut zu handeln oder auf Straftaten zu verzichten. In Kriegen etwa sind Menschen Ausnahmesituationen ausgesetzt, da lernt man sich unter Umständen selbst noch einmal ganz anders kennen. Wir können ein edles Bild von uns haben, wenn wir auf dem Sofa sitzen und nicht in einem Schlauchboot, das zu 220 Prozent überbelegt ist und nur eine Chance hat, das andere Ufer zu erreichen, wenn Passagiere dieses Boot verlassen. Ich weiß nicht, ob wir wirklich von uns sagen können, dass wir wissen, wie wir in einer solchen Situation handeln würden, weil wir diese extremen Anforderungen nicht annähernd kennen.«
Gabe und Aufgabe der Kunst bestehen darin, extreme Erfahrungen zu simulieren, zu kondensieren, zu transformieren. So wie die Handlung im »Totenhaus« keine Identifikationsfiguren mehr anbietet, ist auch die auffallend spröde Musik des späten Janáček an einen Extrempunkt gelangt ‒ die Bochumer Symphoniker unter Dennis Russell Davies werden sich in die schwierig zu realisierende Partitur hineingraben. Die kleinteiligen, fragmentierten Melodiefloskeln ergeben oft ein minimalistisches Webmuster der Musik, das in seiner Motorik die Ohnmacht der Lagerinsassen und ihren eigenen Lebensrhythmus wiedergibt.
Ihre Menschlichkeit erhält die Musik, indem sie den Tonfall der tschechischen Sprache nachbildet ‒ und damit jeder Person ihr besonderes Ich wie in einem Lautarchiv bewahrt. Janáčeks Tochter Olga ist mit 20 Jahren an Typhus gestorben. Barbara Eckle erzählt: »Kurz vor ihrem Tod hat der Vater ihre letzten Worte und ihren Tonfall notiert. ›Ich will nicht sterben, ich will leben‹, hat sie gesagt. Diese Melodie ist in eine Komposition eingegangen. Und so hat er auch im »Totenhaus« mit kleinen Sprachmelodien eine besondere Expressivität oder Charakterfärbung gestaltet. Eine sehr berührende, aber auch moderne Herangehensweise.«
»Aus einem Totenhaus«
von Leoš Janáček, Regie und Bühne: Dmitri Tcherniakov,
Musikalische Leitung: Dennis Russell Davies, mit Bochumer Symphoniker, Chor der
Janáček-Oper des Nationaltheaters Brno,
Neuinszenierung: 31. August, 2. und 3., 6., 8. und 9. September,
Jahrhunderthalle Bochum