Mats Staub hat hundert Menschen aus dem Ruhrgebiet befragt und gefilmt – vor zwei Jahren und heute. Für die Ruhrtriennale schafft er aus dem Material eine multimediale Installation.
Zwei Jahre. Was ist das schon? In einem Leben nicht viel, möchte man meinen. Trotzdem kann natürlich viel passieren. Die Geburt eines Kindes zum Beispiel oder der Tod eines nahen Menschen.
Mit Blick auf die Ruhrtriennale sind die zwei Jahre die Zwischenzeit einer Intendanz: 2021 als Barbara Frey mit ihrem Team an den Start ging, hatte Mats Staub bereits einen Auftritt in der Turbinenhalle in Bochum und im hinteren Teil der Halle hundert Menschen gefilmt und befragt. Kinder, Frauen, Männer jeden Alters. Im Frühjahr 2023 waren sie zurückgekehrt, fast vollzählig, für ein Treffen mit gespenstischen Zügen. Denn Staub hatte für jeden und jede eine Begegnung mit dem alten Ich inszeniert.
Vom neunjährigen Jungen bis zur 80-jährigen Oma – alle ließ er sie vor seinen, mit einigem technischem Aufwand konstruierten »Zauberspiegel« treten und der Vergangenheit in die Augen schauen. Eins zu eins, lebensgroß, nicht starr, sondern bewegt. Überwältigend muss das gewirkt haben. Nicht nur auf die Beteiligten. Auch er selbst sei sehr bewegt gewesen, so der Künstler mit Wohnsitz in Berlin und unverkennbar Schweizer Zungenschlag.
Anfang Juni erwischt man ihn am Handy in Spanien. An einem Ort mit hörbar schlechtem Netz, wohin sich Staub zurückgezogen hat zur Arbeit an seinem Ruhrtriennale-Projekt, das den kurzen und treffenden Titel »Jetzt & Jetzt« trägt. Es gibt viel zu tun. Denn natürlich bleibt es nicht beim gespenstischen Treffen – Staub bereitet das intime Erlebnis der rund hundert Probanden multimedial auf und macht eine große Installation daraus, mit der er während des Festivals erneut die Turbinenhalle füllen will. Zweifellos werden wir dann all jenen befragten und gefilmten Menschen sehr nahe kommen.
Staub schafft zehn Stationen, an denen er seine Aufnahmen von 2021 und 2023 inszeniert.
100 Lieblingssongs
Auf immer zwei Monitoren zeigt er damals und heute. Weil der Künstler durch einen Spionspiegel gefilmt hat, kann man sogar beobachten, wie jede einzelne der Personen auf die Begegnung mit dem vergangenen Ich reagiert hat – gerührt, nachdenklich, belustigt, verschämt oder stolz.
Wie die Menschen im Spiegel, so kann auch das Publikum hundert Lieblingssongs hören, zu jeder Person den passenden. Über eine Art Audioguide, in den auch Äußerungen der Teilnehmer abrufbar sind. Da erzählen sie von den Erlebnissen in jener Zeitspanne. Von geplatzten Träumen vielleicht oder von solchen, die in Erfüllung gegangen sind. Von Wunschkindern, die zur Welt kamen. Oder vom Tod der schwerkranken Mutter. Ein Vater erzählt von seinem Sohn, der sich entschieden hat, sein Geschlecht zu wechseln.
Was war ich, und bin es nicht mehr? Wer bin ich jetzt? Was möchte ich noch werden? Solche Fragen standen auf dem Bogen, den Straub seinen Probanden 2021 vorgelegt hat und 2023 noch einmal. Ihre Gedanken, so hebt der Künstler hervor, hätten ihn heute mit Anfang 50 immer wieder auch über das eigene Leben und dessen Phasen nachdenken lassen.
Wie war es mit Anfang 20, 30, 40? Die Gefühle, Gedanken, Situationen, die er damals durchlebt habe, seien sehr vergleichbar gewesen mit jenen der Menschen, die sich heute im jeweiligen Lebensabschnitt befinden. »Ich kann mich total gut zurückversetzen«, so Staub. »Gleichzeitig ist mir bei der Arbeit aber auch sehr klar geworden, dass es etwas ganz anderes bedeutet, heute Anfang 20, 30, 40 zu sein – es ist eine andere Zeit«.
»Jetzt & Jetzt« von Mats Staub
24. August bis 23. September
Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum
Mats Staub
geboren 1972, in Muri bei Bern, lebt und arbeitet in Berlin. Er hat Theaterwissenschaft, Journalistik und Religionswissenschaft studiert und als Dramaturg in Zürich gearbeitet. Seit 2004 entwickelt Staub Kunstprojekte im Spannungsfeld zwischen Theater und Ausstellung, Wissenschaft und Literatur.