Da ist das Mädchen, das strahlend zwei volle McDonald’s-Tüten in der Hand hält. Weiter unten ein abfotografierter Spendenbrief für ein Tanzfestival in Helsinki. Dann ein Obdachloser, der frische Backwaren in die Kamera hält. Und ein Selfie aus einem schnieken Restaurant. 12.000 Pesos, etwa 300 Euro, haben Hannah Hofmann und Sven Lindholm Besucher*innen des FIBA-Festivals in Buenos Aires übergeben, das die innerhalb von 60 Minuten frei ausgeben durften. Einzige Bedingung: den Geldtransfer dokumentarisch festzuhalten. Jetzt schaut man auf der Webseite des Künstler*innenduos Hofmann&Lindholm in die Gesichter der Menschen, sieht Banknoten und gekaufte Waren, Armut und momenthafte Besitzfreude.
Mit Unterstützung des Goethe Instituts waren Hofmann&Lindholm zum Festival nach Argentinien eingeladen, sollten ortsspezifisch arbeiten, aber aus ökologischer Verantwortung möglichst nicht fliegen. Buenos Aires kennen die beiden nicht. Sie suchten einen kleinen gemeinsamen Nenner, der etwas in Gang setzt und über den Ort und die Menschen erzählt. »Wovon wir auch etwas verstehen, ist Geld«, erzählt Hannah Hofmann. Und das ist angesichts der hohen Inflation vor Ort ein durchaus zentrales Thema. Also planten die zwei, ihr Honorar unter die Leute zu bringen. 60 Minuten hatten die Festival-Besucher*innen Zeit, das Geld auszugeben. Natürlich sorgte »Notes from Germany« für reichlich Diskussionen, fast wäre das Projekt gekippt worden.
Und es erzählt eine ganze Menge über die Arbeit von Hannah Hofmann und Sven Lindholm, die seit über zwanzig Jahren als Künstler*innenteam zusammenarbeiten, ihr Label im Jahr 2000 nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen gründeten, erst in Köln wohnten und jetzt in Bochum leben. Denn dort ist Sven Lindholm seit 2016 auch Professor für Szenische Forschung am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität. Aber das ist ein anderes Thema. Die künstlerischen Arbeiten von Hofmann&Lindholm lassen sich selten vorhandenen Formaten zuordnen, Gattungsgrenzen haben die beiden Künstler*innen von Anfang an durchbrochen. Sie erarbeiten Bühnenstücke und Hörspiele, Filme und Installationen, im Freien wie im Stadttheater, in Museen, im öffentlichen Raum oder in privaten Wohnungen. Ihre Arbeiten sind Störfaktoren im positivsten Sinne. Als »Whistleblower des Öffentlichen«, beschreibt Philipp Blömeke die beiden Künstler*innen im Materialbuch »Nachgestellte Szene« zum 20-jährigen Bestehen von »Hofmann&Lindholm«, weil sie nach verdeckten oder allzu offensichtlichen Regeln und Ordnungsprinzipien fragten, nach denen sich gesellschaftliches Leben vollzieht.
Zum Beispiel nach der Sache mit dem Geld in »Notes from Germany«. Mit einer vermeintlich simplen Idee, einem scheinbar schlichten Konzept verhandeln sie ein großes, welthaltiges Thema – auch hinter den Kulissen, wo nicht nur über Künstler*innengagen diskutiert wurde. Das geschieht gar nicht immer bewusst. Hofmann und Lindholm entwickeln ein Konzept, konzentriert auf eine thematische Auseinandersetzung, schaffen Momente, in denen sich Publikum und Projektbeteiligte verhalten müssen. Das läuft nicht immer reibungslos. Im Bochumer Kunstmuseum haben sie im April Interessierte zur Gründung der »Provisorischen Gesellschaft« eingeladen, einer temporären Gemeinschaft mit dem Ziel, sich praktisch mit der Frage zu beschäftigen, wie man auf unorthodoxe Weise ins Museums einbricht. Klar, dass sich da auch zwielichte Menschen anmelden können. Klar, dass sich da auch die Polizei ins Gespräch einmischt und Anwohner*innen skeptisch werden. 25 Menschen sind nun dabei, zwischen 18 und über 70 Jahren, mit den unterschiedlichsten Berufen. »Eine Gemengelage, die einen Generalverdacht schürt«, sagt Hannah Hofmann. Deshalb trifft sich die Gesellschaft jetzt in der Recherchephase auch nicht mehr im Museum, sondern an einem anderen Ort. Danach entwickeln Hofmann&Lindholm daraus ein künstlerisches Format. Bis April 2024 läuft die Projektphase.
Sie nehmen sich Zeit für die Arbeit. Die meisten ihrer Projekte haben eine lange Produktionszeit, mindestens drei Monate, manchmal auch länger, zum Beispiel neun Monate das »Archiv der zukünftigen Ereignisse« (2011), ein Audio-Stadtrundgang durch Köln. Diese Zeit und die Option, zu Angeboten auch mal Nein zu sagen, ermöglichen ihnen die Exzellenzförderung des Landes NRW und jetzt auch der Tabori Preis. Diese bundesweit höchste Auszeichnung für die Freien Darstellenden Künste, dotiert mit 25.000 Euro, bekam das Künstler*innenduo im Mai in Berlin verliehen. Für die beiden ist es vor allem eine Anerkennung ihrer nicht unbedingt marktkonformen Arbeit, eine Bestärkung.
In ihren ersten zehn Jahren haben die zwei überwiegend mit Kompliz*innen gearbeitet, mit Menschen, die sie für ihre Themen aus Alltagskontexten heraus engagiert haben. »Es wurde ein eingespieltes Ding und wir wollten etwas dazulernen«, erinnert sich Hofmann. Sicherheit – die passt nicht ins Werk von Hofmann&Lindholm. Vielmehr ist es die permanente Unsicherheit, das Wanken, Sich-Verstricken und Neu-Finden, das ihre Arbeit beschreibt. Und die Wirksamkeit ihrer Projekte, die selten vorhersehbar ist, die müssen Macher*innen wie Teilnehmende auch aushalten können. »Nobody’s there« (2021) zum Beispiel ist eine Einladung zum totalen Übertritt in den privaten Rückzugsraum. Sie bekommen einen Schlüssel für eine fremde Wohnung und eine Eieruhr. Sie betreten diese Wohnung, stellen die Uhr auf 30 Minuten und verstecken sich, vielleicht hinter einem Vorhang, vielleicht im Schrank. Dann kommt Ihr Gegenüber, der Wohnungsmieter oder die -besitzerin. Eine halbe Stunde sind Sie beide im selben Raum, Sie begegnen sich ohne sich zu treffen. Sie spüren sich vielleicht, aber Sie sprechen sich nicht. Zurücklehnen und zuschauen ist da nicht. Hofmann&Lindholm wenden immer eine Art Selbstbefremdungsstrategie an. Die übernimmt im besten Falle auch das Publikum. Schaut man sich eine dieser Arbeiten an, oder besser gesagt, nimmt man teil, dann ist es eine »vulnerable Situation«, in die man sich begibt.
Die »Provisorische Gesellschaft« schüttele schon jetzt das ganze Museum durcheinander, sagt Lindholm. »Und uns auch«, ergänzt Hannah Hofmann. Wenn die beiden von ihrer Arbeit erzählen, fallen sie sich immer wieder ins Wort. Aber respektvoll, immer hören sie dem anderen genau zu, denken mit, führen weiter. Falls sie auch mal voneinander genervt sein sollten, dann verdecken sie es ziemlich gut. Oder sie sind es einfach gewohnt: Zu zweit zu arbeiten, bedeute einen permanenten Aushandlungsprozess. Abstimmen funktioniert eben nicht ohne eine mögliche Mehrheit. »Wir diskutieren das aus und sind streng miteinander«, sagt Hofmann. Vor allem aber ist da diese gegenseitige Anerkennung: »Die Stärke kommt zwischen uns, in dieser Beziehung«. Sven Lindholm und Hannah Hofmann sind sich da sehr einig. Ihre Arbeit braucht den Austausch.
Die Dokumentation von »Notes from Germany« ist hier abrufbar:
2. und 3. September Hörstück »alles spricht« im Rahmen eines sleep overs auf der
Burg Hülshoff in Havixbeck zur Geisterstunde
Im Oktober Videoinstallation »Naughty Boys and Girls« im Kunstmuseum Bochum
(Termine werden noch bekanntgegeben)