Gerade stand der Dirigent noch in schwarzer Hose und Hemd am Pult. Jetzt lehnt er sich entspannt im Stuhl zurück. In einem engen, olivgrünen T-Shirt, in Jeans und einer derben Motorradlederjacke – Florian Helgath könnte auch in einer Rock-Band Gitarre spielen. »Mein Chor« sagt er gerne, wenn er vom Chorwerk Ruhr spricht, dessen künstlerischer Leiter er seit 2011 ist. Mein Chor – das könnte besitzergreifend klingen. »Wenn ich das sage, meine ich das voll Liebe zum Ensemble.«
Der gebürtige Regensburger, der schon als Kind bei den dortigen »Domspatzen« sang, hat das ChorWerk Ruhr wie wohl kein anderer geprägt. Gerade wurde sein Vertrag um drei weitere Jahre verlängert. Und das Arbeitspensum deutlich erhöht: Vier bis sechs Programme stemmte noch sein Vorgänger im Jahr, nun sind es zwölf bis vierzehn. Knapp ein Drittel davon sind Kooperationen, zu denen das ChorWerk Ruhr von Orchestern, Festivals oder Opernhäusern eingeladen wird. Der überwiegende Teil aber sind eigene Programme, die er selbst zusammenstellt. Den Chor künstlerisch fordern, das Publikum überraschen – so in etwa ließe sich die Programmstrategie zusammenfassen. Der Erfolg gibt ihr Recht. Denn die Zuhörer folgen Helgath seit Jahren in unbekannte Sphären, wenn er sakrale mit weltlicher Musik unter einem Thema zusammenbringt und Jahrhunderte aufeinandertreffen lässt. Die ChorWerk-Konzerte beim jährlichen Mammut-Festival der Ruhrtriennale – oft als erstes ausverkauft. Auch international ist das Spezialensemble gefragt. »Ob wir eine Kooperationsanfrage annehmen hängt davon ab, wie sehr ein Projekt den Chor künstlerisch interessiert und weiterbringt.«
Gegründet wurde das Chorwerk Ruhr 1999. Damals neigte sich die internationale Bauausstellung Emscher Park ihrem Ende zu. Über zehn Jahre hinweg hatte sie das Ruhrgebiet maßgeblich geprägt, städtische Strukturen neu erfunden, spektakuläre Industriebauten bewahrt und mit neuen Inhalten gefüllt. Wie funktioniert Industriekultur? Wie lassen sich die Jahrhunderthalle, die Zechen Zollverein und Zollern oder die Gebäude des Landschaftsparks Duisburg-Nord als Konzertorte nutzen? Um das herauszufinden, wurde die Reihe »Musik im Industrieraum« gestartet. Um die ungewöhnlichen Räume dauerhaft nutzen zu können, brauchte es eine Struktur. So entstand die Kultur Ruhr GmbH, heute mit dem Land NRW und dem Regionalverband Ruhr als Träger. Zu den Säulen der Kultur Ruhr zählen die Ruhrtriennale, Urbane Künste Ruhr, Chorwerk Ruhr und Tanzlandschaft Ruhr.
Frieder Bernius wurde erster künstlerischer Leiter. Das Chorwerk Ruhr war in diesen Jahren ein reiner Projektchor, der mit wechselnden Sängern und Dirigenten immer neu aufgestellt wurde. Ab 2008 übernahm Rupert Huber für drei Jahre die Leitung. Die Grundlagen für einen Ruf als vokales Spitzenensemble waren gelegt, Florian Helgath schärfte das Profil dann weiter. »Wir sind ein Kammerchor mit 32 Sängern«, sagt der Leiter. A-capella-Chormusik sei das Kerngeschäft. Obwohl alle Mitglieder freie Künstler sind, die jeweils für die Programme angestellt werden, sieht Helgath Chorwerk Ruhr als festes Ensemble. Wie er selbst, leben einige Mitglieder nicht in NRW, sondern versammeln sich nur für die Proben in Bochum oder Essen und Konzerte im Ruhrgebiet, in Deutschland und im europäischen Ausland. Das bedeutet größtmögliche Flexibilität für jeden – bei einer konstanten Besetzung. Es sei eine Grundbedingung, sagt Helgath, dass sich alle gut kennen und auch persönlich mögen. Genauso aber auch eine Qualität, dass man nicht jeden Tag miteinander arbeiten muss, wie etwa ein Rundfunk- oder Opernchor.
Klangliche Delikatesse und stilsichere Flexibilität – noch eine dritte Qualität zeichnet Chorwerk Ruhr aus und die ist selten: der große Wunsch, auch szenisch zu arbeiten. Nur in hübschen Kostümen auf der Bühne stehen und singen? Zu wenig. Da ist eine Zusammenarbeit wie bei der großartigen Inszenierung von Philip Glass’ »Einstein On The Beach« in Dortmund etwas anderes. »Regisseur Kay Voges hat gleich erkannt, wie er die Sänger herausfordern kann. Er hat die Grenzen ausgetestet und dann überrascht festgestellt, wie das Ensemble seine Grenzen auszuloten imstande ist.« Genau das sei auch, was die Lust der Sänger an der szenischen Arbeit ausmacht. Die eigenen Möglichkeiten erweitern. Das Ergebnis damals: In zotteligen Alien-Kostümen enterte der Chor den Zuschauerraum und navigierte fast traumwandlerisch durch die vertrackten Rhythmusstrukturen von Glass’ Minimal Music. Ein unvergesslicher Augenblick für alle Beteiligten. Auch für Chorwerk Ruhr von Florian Helgath, das ein »unmöglich« nicht akzeptiert.