Für Kay Voges’ letzte große Inszenierung am Schauspiel Dortmund braucht es eigentlich einen neuen Begriff: Das Essaytheater, in Anlehnung an diese ganz eigene Form des dokumentarischen Kinos, den Essayfilm. Schon der Titel dieses gemeinsam mit dem gesamten Dortmunder Ensemble erarbeiteten Abends deutet zwei Linien an, die sich eigentlich nur im Unendlichen treffen können. Ein Spiel mit Tschechows »Möwe«, dieser bitteren Komödie über die zerstörerischen Kräfte des Theaters und der Kunst an sich. Und einen Rückblick auf die gut neun Jahre, in denen Voges und sein Ensemble das Schauspiel in ein überregional beachtetes Theaterlabor verwandelt haben. Doch damit nicht genug des quasi Unmöglichen. Zudem schwebt über all dem noch Jean-Luc Godard und seine assoziative Kinogeschichte »Histoire(s) du cinéma«, aus der bei Voges »Histoire(s) du théâtre« werden.
Beim Denken zusehen
Am rechten Rand der Bühne nimmt zunächst Andreas Beck an dem vor einer Bücherwand stehenden Schreibtisch Platz. Er ist der erste, der sich als Double von Jean-Luc Godard und Kay Voges Gedanken über die Welt und das Theater macht. Viele andere Ensemblemitglieder werden im Lauf des Abends folgen. In einer auf einen Gazevorhang projizierten Großaufnahme kann man ihm beim Denken zusehen und erlebt mit, wie sich Gedanken langsam in Sätze verwandeln, die dann zum Teil auch auf dem Vorhang erscheinen. Bilder und Worte treten wie später die einzelnen Szenen der Inszenierung in eine Art Dialog. Sie ergänzen sich, ohne sich ganz zu decken. So provoziert Voges ein paralleles Denken, das gewohnte Schablonen hinter sich lässt.
Godards Collage-Technik, die Verbindungen zwischen (Kino-)Bildern schafft und Räume für komplexe Reflexionen öffnet, spiegelt sich dabei schon in Michael Siederock-Serafimowitschs Bühnenkonstruktion. Mit ihren hintereinander gestaffelten roten Vorhängen erinnert sie an Matrjoschka-Puppen. Hinter jedem Vorhang liegt eine weitere Bühne. So können sich einzelne Szenen und Situationen wie in einem Rückkopplungseffekt wiederholen oder auch überlagern. Schließlich ist das pulsierende Herz des Theaters ein nicht aufzulösender Widerspruch. Alles, was auf einer Bühne geschieht, ist flüchtig und damit einzigartig, und doch wiederholt sich das alles von Vorstellung zu Vorstellung.
Grübeln über die menschliche Existenz
Diese Gleichzeitigkeit des eigentlich Unvereinbaren ist seit Jahren eines der großen Themen von Kay Voges. Immer wieder hat er seine Spielerinnen und Spieler in Loops geschickt und damit eine zentrale Frage aus Tschechows »Möwe« aufgegriffen. Während der junge Dichter Treplew nach »neuen Formen« sucht, um den »alten Mist« hinter sich zu lassen, erinnert einen Voges’ Theater mit Macht daran, dass das Leben meist aus Variationen des Altbekannten besteht, nur selten wirklich Neues bringt. Seine in fast zehn Jahren entstandenen Reflexionen über das Theater, die er in »►PLAY: Möwe | Abriss einer Reise« ausgiebig zitiert, sind zugleich ein Grübeln über die menschliche Existenz, in der sich Tragik und Komik nie klar voneinander trennen lassen. Insofern überrascht es fast, dass er sich erst jetzt Tschechow, diesem grandiosen Kenner der menschlichen Tragikomik, zugewandt hat. Zugleich ist es aber auch konsequent. Die sich ständig wiederholenden Szenen zwischen Treplew und der jungen Schauspielerin Nina, zwischen Treplew und seiner Mutter und zwischen Nina und dem Schriftsteller Trigorin, die jedes Mal von anderen Darstellerinnen und Darstellern verkörpert werden, geben dem gesamten Ensemble die perfekte Gelegenheit zu glänzen und sich von seiner spielerischsten Seite zu zeigen. Voges’ Intendanz hat sich eben nie nur in technischen Experimenten und Innovationen erschöpft. Sie wurde immer auch von großem, von Mut und Spielfreude erfülltem Schauspielertheater geprägt.
10., 15. und 24. November, Schauspielhaus Dortmund